Italien: Leoluca Orlando im Interview:"Das System Berlusconi ist am Ende"

Nach Griechenland und Portugal haben die Finanzmärkte Italien ins Visier genommen. Für Oppositionspolitiker Leoluca Orlando ist das Land selbst schuld an der Misere. Weil Berlusconi den Interessenkonflikt zur Nationalkultur gemacht habe, suchten viele junge Italiener ihr Glück im Ausland. Der Premier sei verantwortlich, dass Italien "nur noch formell" Teil Europas sei.

Matthias Kolb

Der 1947 geborene Leoluca Orlando ist einer der profiliertesten Mafia-Gegner Italiens. Als Bürgermeister von Palermo (1985-1990 und 1993-2000) gelang es dem Sizilianer, die Mafia erstmals weitgehend aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben der Stadt zu verdrängen. Der Politiker stand lange ganz oben auf der Abschussliste der Mafia, weshalb er und seine Familie lange unter Personenschutz leben mussten. Heute sitzt der Sizilianer, der in Heidelberg studiert hat, für die Partei Italia dei Valori (Italien der Werte) im Parlament in Rom.

LEOLUCA ORLANDO

Der italienische Oppositionspolitiker Leoluca Orlando blickt mit Sorge auf die aktuelle Lage seines Landes - und hofft, dass sich die Bürger vom Berlusconismo abwenden.

(Foto: AP)

sueddeutsche.de: Herr Orlando, vor knapp zwei Wochen kamen auf den internationalen Finanzmärkten Spekulationen auf, dass nach Griechenland auch Italien von einer Staatspleite bedroht ist. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft Ihres Landes?

Leoluca Orlando: Die Lage in Italien ist sehr schwierig, und das im 150. Jahr unserer Einigung. Wir befinden uns in einer finanziell-ökonomische Krise, aber wir können nicht nur die globalen Finanzmärkte dafür verantwortlich machen. Die Probleme werden durch etwas produziert, was ich eine ethische und kulturelle Barbarisierung nenne. Die Lage ist so brisant, weil wir in einer Diktatur leben. Dieses System ist am Ende und nichts ist so gefährlich wie eine Diktatur, die am Ende ist.

sueddeutsche.de: Ist der Begriff Diktatur nicht übertrieben? Italien gehört immer noch der EU an und es finden demokratische Wahlen statt.

Orlando: Ich spreche über eine Diktatur, die im dritten Millennium in einem Europa ohne Grenzen existiert. Im 21. Jahrhundert kann ein Diktator nicht wie Benito Mussolini oder Adolf Hitler agieren, das ginge höchstens noch in Zentralafrika. Wir leben in einer Kommunikationsgesellschaft, doch die Denkmuster im Berlusconi-Italien sind in einigen Bereichen ähnlich radikal. Es gibt für ihn nur Freunde und Feinde.

sueddeutsche.de: Wen sieht Berlusconi als Feinde an?

Orlando: Jeden, der kontrolliert und kritisiert, wie zum Beispiel die Europäische Union oder Staatspräsident Giorgio Napolitano. Gleiches gilt für den Verfassungsgerichtshof, das Justizsystem und die freie Presse. Wer jeden, der Kontrolle ausübt und kritische Fragen stellt, für einen Gegner hält, der hat eine falsche Vorstellung von Demokratie. Auch wenn sie die Wahlen gewonnen hat, verfügt die Regierung doch nicht über absolute Macht. Gewalt muss immer eingeschränkt werden, sonst entstehen Interessenkonflikte.

sueddeutsche.de: Die hat der Premierminister ständig. Berlusconi ist zugleich der größte Medienunternehmer des Landes.

Orlando: Berlusconi hat den Interessenkonflikt zu unserer Nationalkultur gemacht. Der Käufer ist zugleich der Verkäufer und der Auftraggeber ist zugleich Auftragnehmer. Es braucht kein Bestechungsgeld im klassischen Sinn mehr, wenn etwa ein Politiker sein Amt ausnutzt, um der Firma seiner Ehefrau einen Auftrag zu vermitteln. Wie soll ich als Unternehmer gegen einen Konkurrenten bestehen, wenn dieser zugleich Unternehmer und Politiker ist? Bestechungsgeld beeinflusst ein einziges Geschäft, doch der Interessenkonflikt korrumpiert das ganze System. So etwas ist nicht mal strafrechtlich relevant. Wir haben nicht nur eine "neue Diktatur", sondern auch eine "neue Mafia" und ein "neues Bestechungsgeld". So sieht es heute in Italien aus.

sueddeutsche.de: Welche Schritte erhoffen Sie sich von der Europäischen Union? Ex-Premier Romano Prodi klagte vor kurzem in einem Interview, kein europäischer Politiker sei mehr bereit, seine Karriere zu riskieren, um Europa zu stärken.

Orlando: Wir brauchen eigentlich keine Hilfe von außen. Viele meiner Landsleute sagen immer noch, Italien sei der Nabel der Welt. Ich bitte Sie! Wir müssen versuchen, in Europa zu bleiben und unseren Platz zu finden. Es gibt ein Risiko, dass wir formell innerhalb Europas sind, doch substanziell außerhalb Europas. Zurzeit spielt Italien in der EU keine wichtige Rolle, sondern ist nur ein Gast, den man gerade so akzeptiert. Aber es gibt positive Signale.

sueddeutsche.de: Was macht Sie optimistisch?

Orlando: Europa muss sich bewusst sein, dass Italien in einer gefährlichen Lage ist und die freie Marktwirtschaft dort in Gefahr ist. Berlusconi ist nicht nur für Italien ein Risiko, sondern auch für den Euro. Europa muss aber auch wissen, dass die Bevölkerung angefangen hat, nein zu sagen. Eine Mehrheit ist nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen die Kultur des Berlusconismo. Wir haben 2011 nicht nur den Arabischen Frühling erlebt, sondern auch einen "italienischen Frühling".

sueddeutsche.de: Sie meinen die Erfolge der Opposition bei Kommunalwahlen im April sowie bei dem Referendum über den Bau neuer Atomkraftwerke im Mai.

Orlando: Genau. Ich kann mich noch genau erinnern, als ich mit meiner Partei Italien der Werte (Italia dei Valori) Unterschriften sammelte für das Referendum. Viele sagten: "Du bist doch verrückt und verschwendest deine Zeit. Niemals werden genügend Leute unterschreiben und wenn doch, dann wird sich die Mehrheit nicht beteiligen." Aber wir haben es geschafft: 57 Prozent!

sueddeutsche.de: Gratulation. Aber wie nachhaltig ist diese Ablehnung?

Orlando: Sie zeigt sich bei den Primaries, im Internet und bei den Referenden. Bis Frühling 2011 hat die italienische Politik Vorwahlen abgelehnt. Schließlich hat man sie zugelassen und viele Kandidaten der Parteibürokratie haben verloren. Im Internet organisieren sich längst nicht mehr nur die jungen Leute. Beim Referendum hat das Volk die Pläne der Regierung einkassiert. Sie wollen keine neuen Atomkraftwerke, keine Privatisierung der Wasserversorgung und keine Immunität für den Premierminister. Italiens Politik hat sich verändert - ohne diese drei Faktoren geht es nicht.

sueddeutsche.de: Steht dann der Sieg der Opposition bei der nächsten Wahl schon fest?

Orlando: Ich bin vorsichtig. Klar ist, dass Berlusconi verloren hat. Unsere Koalition muss beweisen, dass wir würdig sind, die Nationalwahlen zu gewinnen.

sueddeutsche.de: Das Sparpaket der Regierung haben Sie am vergangenen Freitag abgelehnt.

Orlando: Wir haben die Abstimmung im Parlament nicht blockiert, aber wir konnten das Paket der Regierung nicht unterstützen, weil es unzureichend ist. Fast alle Einsparungen sind für 2013 und 2014 vorgesehen - also nach der nächsten Wahl. Das ist unseriös. Die Regierung hat die Privilegien nicht angetastet und nicht die Reichen stärker belastet. Stattdessen wurden die Renten gekürzt und die Beiträge im Gesundheitswesen erhöht. Wir haben Gegenvorschläge ausgearbeitet, die wir umsetzen wollen, wenn wir die Regierung übernehmen.

sueddeutsche.de: Von außen wirkt Italien relativ verkrustet. Junge Leute haben kaum Chancen auf gute Jobs, wenn sie keine Beziehungen haben. Verlieren Sie Ihre besten Köpfe ans Ausland?

Orlando: Das ist ein Riesenproblem: Diese Vetternwirtschaft hat auch mit dem Berlusconismo zu tun. Früher gab es so etwas vor allem in Sizilien, und wir haben lange dagegen gekämpft. Heute gibt es diese Kultur im ganzen Land. Anderswo in Europa fragt man: Wer bist du, was weißt du und welche Fähigkeiten besitzt du?

sueddeutsche.de: Und welche Fragen stellt man in Italien?

Orlando: Es dreht sich nur darum: Wem gehörst du an? Wenn deine Freunde und Verwandten stark sind, dann machst du auch als Dummkopf eine große Karriere. Selbst Einstein wäre in Italien gescheitert, weil er niemanden kannte. Also suchen viele junge Leute ihr Glück im Ausland und wer sollte es ihnen übel nehmen? Viele junge Leute aus meiner Familie haben Italien ebenfalls verlassen.

"Berlusconi ist allein"

sueddeutsche.de: Der 74-jährige Berlusconi hat erklärt, 2013 nicht mehr antreten zu wollen. Fühlt er sich zu alt oder ahnt er, dass er nach den Bunga-Bunga-Skandalen nicht mehr gewinnen kann?

Silvio Berlusconi looks on during a debate in the upper house of Parliament in Rome

Italiens Premierminister Silvio Berlusconi während einer Debatte im italienischen Parlament.

(Foto: REUTERS)

Orlando: Ich glaube, er weiß, dass er selbst nicht mehr für seine eigenen Interessen kämpfen kann. Berlusconi ist heute allein innerhalb seiner Partei. Alle verstehen, dass die Koalition mit ihm keine Chance hat, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Vor sechs Monaten habe ich im Parlament in Rom aus Goethes Faust zitiert: "Am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir machten." Ich habe gesagt: "Präsident Berlusconi, Sie sind ein Diktator und Sie sind nicht frei."

sueddeutsche.de: Wieso ist der Cavaliere nicht frei?

Orlando: Er hat sich in zu viele Abhängigkeiten verstrickt und zu viele Kompromisse gemacht. Ich habe gesagt: "Herr Berlusconi, Sie können einen Hieb bekommen von Ruby, einem jungen Mädchen aus Marokko, von einem korrupten Unternehmer aus Bari, von einem Escort-Girl aus Rom oder von einem libyschen Diktator aus Tripolis. Sie leben in Angst und das ist eine Gefahr für unser Land." Aber er bleibt im Amt und versucht, sich die verlorene Mehrheit durch gekaufte Stimmen zu sichern. Er lässt viel zu viele Dinge laufen und greift nicht ein.

sueddeutsche.de: Wo müsste er denn handeln?

Orlando: Wir haben einen neuen Landwirtschaftsminister namens Saverio Romano. Die Staatsanwaltschaft von Palermo will wegen Mafia-Verstrickungen einen Prozess gegen ihn eröffnen. Sie beschuldigt ihn, seine politische Karriere der Cosa Nostra zu verdanken. Dieser Mann vertritt Italien bei Beratungen in Brüssel, wo es um viele Milliarden geht. Wie soll das Glaubwürdigkeit vermitteln? Glaubwürdigkeit ist ein hohes Gut und spielt manchmal eine größere Rolle als Geld.

sueddeutsche.de: Für viele Analysten galt Finanzminister Giulio Tremonti lange als Garant für Stabilität. Als Berlusconi vor zwei Wochen Tremonti attackierte, wurden die Märkte unruhig.

Orlando: Ich erinnere mich, dass es ein Treffen zwischen Altkanzler Helmut Kohl und dem damaligen Ministerpräsidenten Prodi und Finanzminister Carlo Azeglio Ciampi gab. Es ging darum, ob Italien den Euro einführen kann. Die beiden präsentierten die Daten, wonach sie die Maastricht-Kriterien erfüllen und stellten die Pläne vor. Kohl blickt ihnen in die Augen und sagte: "Ich glaube Ihnen." So etwas ist doch heute unvorstellbar. Heute befindet sich Italien in einer ganz anderen Lage: Wir haben kein Geld und keine Glaubwürdigkeit, das kann nicht gutgehen.

sueddeutsche.de: Berlusconi hat Justizminister Angelino Alfano zum Kronprinzen ernannt. Was ist Alfano für ein Mensch?

Orlando: (lacht) Er sagt gern, dass er ein Schüler von Professor Orlando ist. Aber ich trage keine Verantwortung für alle meine Studenten, die ich in Palermo unterrichtet habe. Alfano hat als Justizminister jene Gesetze "ad personam" veranlasst, die Berlusconi vor Strafverfolgung schützen sollten. Dauernd greift er Staatsanwälte an. Alfano ist eine kleine Fotokopie von Berlusconi.

Profiteur der Krise: Die neue Mafia

BERNARDO PROVENZANO

Im April 2006 wurde der sizilianische Mafiaboss Bernardo Provenzano verhaftet. Wegen seiner Entschlossenheit nannte man ihn "Traktor" - sein Nachfolger Matteo Denari wird hingegen "Rolex" genannt, weil er eine Vorliebe für teure Uhren hat. Für Leoluca Orlando zeigt dies, wie sich die Clans verändern - und immer stärker die Wirtschaft unterwandern.

(Foto: AP)

sueddeutsche.de: Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der Mafia und der organisierten Kriminalität. Steht zu befürchten, dass Cosa Nostra, Camorra und 'Ndrangheta die größten Profiteure der Finanzkrise sind?

Orlando: Das sind sie doch schon. Für die "neue Mafia" ist die Lage doch ideal: Die Krise absorbiert alle Aufmerksamkeit, die Regierung attackiert Staatsanwälte sowie Richter und sorgt für die Gesetze, die ihr nutzen.

sueddeutsche.de: Können Sie ein Beispiel nennen?

Orlando: Ein Gesetz sieht vor, dass Schwarzgeld zurück nach Italien gebracht werden kann, wenn der Besitzer fünf Prozent Steuern nachzahlt - und ihm wird sogar Anonymität zugesichert. Normale Arbeitnehmer müssen hingegen bis zu 40 Prozent zahlen. Das Schwarzgeld wurde in Lire ausgeführt und kommt als Euro zurück, deswegen können die Clans in Berlin und München ganze Wohnblocks aufkaufen.

sueddeutsche.de: Vor kurzem wurde der Haupttäter für den Sechsfachmord in Duisburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie sind oft in Deutschland und Österreich unterwegs: Hat diese Tat die Menschen und Politiker wachgerüttelt, dass die Mafia auch hierzulande aktiv ist?

Orlando: Leider nicht. Die Tat war ein Betriebsunfall, denn natürlich will die Mafia im Geheimen agieren. Viele glauben noch immer, dass die Mafiosi in Deutschland so auftreten wie in alten Filmen und Leute mit einem Messer bedrohen. Dabei treten sie viel öfter als Investoren auf. Sie wissen genau, welche Firmen Finanzprobleme haben: Denen kaufen sie Anteile ab und versorgen sie mit Geld. Doch sobald es die Chance gibt, übernehmen sie die Unternehmen.

sueddeutsche.de: Das hat wirklich wenig mit alten Filmen zu tun.

Orlando: Die Entwicklung der Mafiabosse lässt sich gut illustrieren, wenn man sich die Spitznamen der Bosse ansieht. Totò Riina wurde von seinen eigenen Leuten "Bestie" (la belva) genannt, weil er so brutal war. Bernardo Provenzano nannte man wegen seiner Entschlossenheit den "Traktor" (u tratturi). Sein Nachfolger als Capo dei Capi ist Matteo Denaro, der den Spitznamen "Rolex" trägt, weil er eine Sammlung teurer Uhren besitzt. Viele neue Mafiosi treten weltgewandt auf und sind von außen nicht als Verbrecher zu erkennen.

sueddeutsche.de: Dieses Problem ist doch so lange nicht zu lösen, wie es die europäischen Staaten ablehnen, grenzübergreifend zusammenzuarbeiten und ihre Strafgesetze zu vereinheitlichen.

Orlando: Ganz genau, ich sage gern: "Die Paten mögen aus dem warmen Süden kommen, aber das Geld wird im kalten Norden investiert und vermehrt sich dort."

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