Brückeneinsturz:Italien, der fragile Riese

Kolosseum

Können die Italiener ihren Staat stabilisieren - oder muss erst alles zusammenmbrechen?

(Foto: dpa)

Die Morandi-Brücke in Genua und der Zustand des Landes zeigen bestürzende Parallelen. Unklar ist, ob die Italiener ihren Staat stabilisieren können - bevor er zusammenbricht.

Kommentar von Stefan Ulrich

Brücken darf man nicht überfrachten, auch nicht symbolisch. Daher ist es verfehlt, den Zustand Italiens bereits mit dem Morandi-Viadukt gleichzusetzen, das am Dienstag zusammengebrochen ist. Noch hält das Land stand. Es steht in vielem besser da als die Brücke vor ihrem Einsturz. Es verfügt über stabile Unternehmen, modernste Hochgeschwindigkeitszüge und eine Unzahl kreativer, engagierter Bürger. Und es darf sich rühmen, das schönste Land Europas zu sein, mit den meisten Kulturschätzen und, neben Frankreich, der besten Küche.

Und dennoch: Wenn sich Italien nun, nach dem Desaster von Genua, einer Selbstprüfung stellt, so wird es Parallelen zur Morandi-Brücke finden. Sieben finstere Parallelen.

So wie, erstens, das Viadukt ein fragiler Riese war, so ist das auch Italien. Es ist mit seinen 60 Millionen Einwohnern die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt und zählt zu den Kernländern der EU. Doch die Abstiegsängste der Italiener sind berechtigt. Wie der Beton der Brücke von bedrohlichen Haarrissen durchzogen war, so ist es auch diese Nation. Staatsverschuldung, chronische Wachstumsschwäche, fehlendes Vertrauen der Bürger in den Staat, eine bräsige Bürokratie und die Korruption gefährden ihre Stabilität.

Gefahrenvergessenheit tut Italien nicht gut

Das würde, zweitens, eine unermüdliche Instandsetzung der Strukturen erfordern. Bei der Brücke war sie unzureichend. Für Italien ist sie das auch. Die Nation erweist sich immer dann als großartig, wenn es Großes zu bewirken gilt: die erste Autobahn Europas in den Zwanzigerjahren bauen, die Morandi-Brücke in den Sechzigern errichten, Nothilfe nach Erdbeben leisten, tolle Autos, Möbel oder Weine kreieren. Das zeichnet Italien aus. Doch wenn es an den Erhalt geht, verliert das Land Elan. Das zeigt sich am grotesken Zustand vieler Straßen, am Zerbröseln weltberühmter Kulturgüter oder an der raschen Vermüllung aufwendig angelegter Parks. Italien fällt es leichter, Gipfel zu stürmen, als die Mühen der Ebene zu bewältigen.

Die dritte schwarze Parallele: Obwohl der Zustand des Genueser Viadukts bekannt war, kam es zur Katastrophe. Ähnlich gefahrvergessen geht es in vielen anderen Teilen des Landes zu. Erdrutschgefährdete Hänge werden bebaut, erdbebebengefährdete Häuser nicht saniert, Großprojekte wie die Autobahn von Salerno nach Reggio Calabria der Mafia zum Abkassieren überlassen, korrupte Politiker wiedergewählt. Ist es Gottvertrauen? Oder Fatalismus? Der Nation tut die Gefahrenvergessenheit jedenfalls nicht gut.

Nach 1990 ging das System ein

Zugegeben: Was die Apennin-Halbinsel so schön und aufregend macht - das Zerklüftete, Kleinräumige, die vielen Berge, die wilden Elemente wie das Feuer der Vulkane -, macht sie schwierig zu besiedeln. Nur: Müsste daher nicht umso sorgfältiger geplant, gebaut, saniert werden?

Sorglosigkeit und mangelhafte Instandhaltung führen im Gegenteil, viertens, dazu, dass Italien seit Langem von der Substanz lebt. In den Fünfzigern und Sechzigern, als auch das Morandi-Viadukt errichtet wurde, hat das Land einen Miracolo italiano, ein italienisches Wirtschaftswunder, vollbracht. Mit einer unglaublichen Energieleistung und unter kluger politischer Führung verwandelten die Italiener ihr eher rückständiges Land in eine boomende Industrienation. Das Leben der Menschen verbesserte sich enorm, auch in abgelegenen Gebieten des Südens. Doch danach glitt das System unter Führung der Partei Democrazia Cristiana in die Krise. Es verknöcherte, korrumpierte und ging bald nach 1990 vollends ein.

Italien leidet unter dem Kontrollverlust des Staates

Doch was danach kam, lässt einen die verblichene christdemokratische Partei fast verklären. Weder die populistische Rechte um Silvio Berlusconi noch die sich ständig häutende Linke schafften es, Italien zu erneuern. I politici! Die Politiker!, antworten daher heute viele Bürger, wenn sie auf die Misere des Landes angesprochen werden. Doch sie sind auch selbst dafür verantwortlich. Während der Zweiten Republik von 1994 bis heute haben die Wähler keine einzige Regierung im Amt bestätigt. So lassen sich langfristige Projekte wie die Erneuerung der Infrastruktur kaum meistern.

Zudem vollzog sich, fünftens, im vergangenen Vierteljahrhundert ein Kontrollverlust des Staates. Er konnte oder wollte Gesetze kaum mehr durchsetzen. Wie die Brücke wurde Italien immer schlechter beaufsichtigt. Berlusconi lebte den Bürgern enthemmten Eigennutz vor. Jeder bereichere sich so gut er kann - so klang das ungeschriebene Motto seiner Ära. Für eine Nation, die spät entstand, in viele Regionen mit starker Eigenidentität geteilt ist und wenig Gemeinsinn erzeugt, war das fatal.

Sechstens: Für sanfte Sanierungsarbeiten ist es zu spät. Italien bräuchte eine Generalüberholung, nicht nur seiner Infrastruktur, sondern auch seines politischen Systems. Der sozialdemokratische Premier Matteo Renzi, der von 2014 bis 2016 regierte, hatte das erkannt und eine Reform der Republik eingeleitet. Die Italiener jagten ihn daraufhin so schnell sie konnten aus dem Amt.

Muss das Land zusammenbrechen, bevor es erneuert werden kann?

Viele Bürger vertrauen ihrem Staat und der Zukunft so wenig, wie die Genuesen dem Ponte Morandi vertrauten. Paradoxerweise wählten die Italiener deshalb im Frühjahr Hasardeure an die Macht: die rechtshetzerische Lega und die konfus-populistische Fünf-Sterne-Bewegung. Beide tragen Mitschuld am Zustand der Infrastruktur. Die Lega, weil sie seit 1994 mehrfach als Juniorpartner Berlusconis mitregierte. Die Fünf Sterne, weil sie sich Infrastrukturprojekten oft fanatisch widersetzt. So forderte Sterne-Gründer Beppe Grillo 2014 dazu auf, die Befürworter des Baus einer Umgehungsautobahn bei Genua mit der Armee zu stoppen.

Daran will die Regierung nicht erinnert werden. Sie versucht lieber, den Bürgern vorzugaukeln, die Sparpolitik der EU sei am Brückeneinsturz schuld. So stellt sich, siebtens, die bange Frage: Schaffen es die Italiener, ihr Land zu stabilisieren? Oder muss es erst zusammenbrechen, bevor es erneuert werden kann?

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