Historische Analogien sind oft verwegen oder sogar offen falsch - zumal dann, wenn die Momente, die da nebeneinandergestellt werden, genau ein Jahrhundert auseinanderliegen. In Italien ist die Versuchung zur Analogie dennoch gerade ziemlich groß.
Vor 100 Jahren, am 28. Oktober 1922, marschierten einige Tausend Faschisten in schwarzen Hemden nach Rom, um die Stadt zu besetzen. Es war ein Coup, zu dem es nicht viel brauchte, denn jeder Widerstand fehlte. Benito Mussolini reiste im Zug aus Mailand an, ließ sich mit den Marschierenden ablichten, die Hände in die Hüften gestemmt, die typische Pose des Duce. Am Tag darauf erhielt er vom König den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Mussolini zerrte Italien in eine brutale, zuweilen tragisch operettenhafte Herrschaft, mit seinen Feldzügen in Afrika, den Rassengesetzen, dem Krieg an der Seite der Nazis, seinem imperialistischen Größenwahn. Zwanzig Jahre dauerte diese Herrschaft, ein "Ventennio".
Heute ragt einem von allen Zeitungsständen das mächtige Kinn des Duce entgegen. Ganze Serien von Büchern mit seinem Abbild haben die Zeitungen und Magazine herausgebracht. TV Sorrisi e Canzoni, ein Fernsehprogrammheft, legt die mehrbändige Biografie "Mussolini e il Fascismo" des verstorbenen Historikers Renzo De Felice für seine Leser in vierzehn Büchern neu auf, 9,99 Euro pro Nummer. La Repubblica kontert mit "Storia del Fascismo" von Emilio Gentile, dem vielleicht angesehensten Experten, sechzehn Bände à 14,90 Euro.
Zwei Denkschulen: eine warnt, eine verharmlost
In den Buchhandlungen liegen so viele Neuerscheinungen über den Marsch auf Rom und den Faschismus, dass man meinen könnte, alle hätten auf diesen Jahrestag gewartet. Etliche Titel stehen auf der Bestsellerliste. Aldo Cazzullo zum Beispiel hat "Mussolini, der Bandenchef" geschrieben, es hat sich in wenigen Wochen mehr als 150 000 Mal verkauft. In der Unterzeile steht: "Warum wir uns für den Faschismus schämen sollten."
Fast auf den Tag genau hundert Jahre nach der "Geburt der Diktatur", wie zumindest die antifaschistischen Italiener den 28. Oktober 1922 nennen, haben die Postfaschisten in Rom die Macht übernommen. Die Fratelli d'Italia sind so etwas wie die weit entfernten Nachlassverwalter des Faschismus, und ihre Chefin Giorgia Meloni ist jetzt Ministerpräsidentin. In ihrer Programmrede im Parlament sagte sie, Totalitarismen egal welchen Ursprungs hätten ihr nie gefallen und die Rassengesetze seien in der Geschichte Italiens der Tiefpunkt gewesen, eine Schande für immer. Ihr Vorgänger an der Spitze der Postfaschisten, Gianfranco Fini, war viel weiter gegangen. Er nannte den Faschismus einmal "male assoluto", das absolut Böse. Da war alles drin, nicht nur das offenkundig Schändliche.
Giorgia Meloni:Was diese Frau wohl aus Italien machen wird?
In ihrer ersten Rede als Premierministerin bekennt sich Meloni klar zu Europa, aber: Sie ist halt auch eine Art Nachlassverwalterin rechtstotalitärer Verbrecher. Von einer Frau, die seit ihrem Wahlsieg überraschend geräuschlos die Kontrolle übernimmt.
Im Großen und Ganzen gibt es in Italien zwei Denkschulen zum Faschismus. Die Anhänger der einen finden, das Ventennio sei viel zu wenig und viel zu unseriös aufgearbeitet und dadurch mit der Zeit banalisiert worden. In der Folge habe der Antifaschismus als Sinnstiftung der Republik und Basis der Verfassung zusehends an Wert und Autorität verloren. Die andere Denkschule, betrieben von der extremen Rechten selbst, stellt alarmierende Warnungen vor einem Restfaschismus als ideologische Verdrehung der Wirklichkeit dar. Der Faschismus sei 1945 erloschen, er sei Geschichte, so die Botschaft.
Extremisten missbrauchen das Kolosseum
Zwischen diesen beiden Haltungen herrscht viel Konfusion und viel Halbwissen. Auch der imposante Reigen von Konferenzen, Ausstellungen, Lesungen, Dokumentarfilmen und Fernsehsendungen zum Marsch auf Rom wird daran wohl nur ein bisschen etwas ändern. Gerade wird wieder der Ruf nach der Einrichtung eines nationalen Museums zum Faschismus laut, das gibt es bis heute tatsächlich nicht.
Selbst wenn es mal in Mussolinis Geburtsort und Ruhestätte Predappio eine historisch einigermaßen solide Ausstellung gibt, dann pilgern vor allem die Nostalgiker hin, decken sich in den Souvenirshops an der Via Roma des kleinen Orts mit Memorabilia zum Duce ein und verneigen sich vor seiner Krypta. Auch an diesem Sonntag wird es wieder so sein, dass in Predappio die Wehmütigen defilieren. Am 28. Oktober aber war die Straße für die Antifaschisten gesperrt.
Um zu verstehen, wie wenig gemeinsames Bewusstsein die Italiener über die Jahrzehnte hinweg für die dunklen Kapitel ihrer Geschichte entwickelt haben, bot sich dieser Tage ein Blick auf die Belvedere degli Annibaldi in Rom an, die Aussichtsbrücke vor dem Kolosseum, sehr beliebt unter fotografierenden Touristen.
Newsletter abonnieren:SZ am Sonntag-Newsletter
Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.
An die Brüstung haben politische Gruppierungen in den vergangenen Nächten zwei lange Banderolen gehängt. Wahrscheinlich nur für kurze Zeit, bevor die Polizei kam, aber doch lange genug, um davon Fotos zu machen und sie dann in den sozialen Medien zu teilen. "28 X 22 - Wir wissen, wie es endet", stand auf dem ersten Spruchband, dazu ein Bild von Benito Mussolini, auf dem Kopf, als Erinnerung an sein ikonografisches Ende: Partisanen hängten 1945 den toten Körper des Faschistenführers an den Füßen an eine Stange auf der Piazzale Loreto in Mailand.
Gezeichnet war die nächtliche Brückenaktion von der außerparlamentarischen "Patria socialista". In der Nacht darauf antwortete am selben Ort das neofaschistische "Movimento nazionale". Auf seinem Spruchband stand: "28 X - Hundert Jahre danach, der Marsch geht weiter."
Rom war schon immer eine Projektionsfläche für Extremisten, vor allem für Rechtsextremisten. Sie pflastern die Stadt regelmäßig mit kryptofaschistischen Manifesten, mit Kreuzen, Mottos und Namen faschistischer Schergen. Jetzt tun sie es gerade noch etwas häufiger als sonst, und wahrscheinlich liegt das nicht nur am hundertsten Jahrestag.