Rom:Draghi und die Schicksalsfrage

April 10, 2021, Brescia, Brescia, Italy: Coronavirus emergency protest of streets vendors against the rules about Coron

Die Pandemie hat Italien im Vergleich zu anderen EU-Ländern schwer getroffen: Demonstration von Straßenhändlern gegen Coronamaßnahmen in Brescia.

(Foto: imago images/ZUMA Wire)

Italien rechnet mit der Riesensumme von 248 Milliarden Euro Corona-Hilfen. Der Ministerpräsident will sie nutzen, um das Land aus der jahrzehntelangen Erstarrung zu lösen.

Von Ulrike Sauer

Es wäre einfach gewesen, auf die Wirkungsmacht der Zahlen zu vertrauen. 248 Milliarden Euro sollen Italiens Aufbruch aus drei Jahrzehnten hartnäckiger Wachstumsschwäche befeuern. Welch eine Summe! Erst recht für ein chronisch klammes Land, dem die Schulden nicht erst in der Pandemie über den Kopf gewachsen sind. Nie konnte eine Regierung in Rom auch nur annähernd so üppige Investitionen verkünden. Mario Draghi lässt aber die Zahlen beiseite. Er spricht von den Menschen. "Wir würden uns irren, wenn wir im nationalen Aufbau- und Resilienzplan trotz seiner historischen Bedeutung eine Ansammlung von ehrgeizigen Projekten, Zahlen, Zielen und Fristen sehen würden", sagte der Regierungschef vor dem Abgeordnetenhaus bei der Vorstellung des italienischen Programms.

Draghi schlägt dem Land eine andere Lesart vor. "Denkt an das Leben der Italiener, vor allem denkt an das Leben der Jugend, der Frauen und unserer zukünftigen Mitbürger", sagt der frühere Chef der Europäischen Zentralbank, der im vergangenen Februar eilig zum Premier bestellt worden war. Er spricht diejenigen an, die in Italien am schwersten von den Folgen der Pandemie getroffen sind. Eigentlich muss man sagen, er richtet sich an diejenigen, die seit Jahrzehnten am ärgsten unter dem erstarrten System Italien leiden: die junge Generation, die Frauen und die Nachgeborenen, die Italiens Rekordschulden irgendwann zurückzahlen müssen. Dieser Perspektivwechsel ist es, der es Draghi erlaubt, von einem "epochalen Eingriff" zu sprechen. Denn seine Regierung betreibt die Abkehr von den überkommenen Grundmustern römischer Ausgabenpolitik. Natürlich ist es dann die überwältigende Höhe der EU-Hilfen aus dem gemeinsamen Corona-Wiederaufbaufonds, die diesem Versuch ein einmaliges Potenzial verleiht.

Seine Schutzmaske legt der Premier nie ab

Draghi nimmt seine Schutzmaske während der 44-minütigen Rede im Parlament nie ab. Dafür enthüllt er nach und nach das Gerüst des italienischen Investitionsplans. Der ehemalige Zentralbanker legt eine sehr persönliche Interpretation der auf 300 Seiten aufgeführten Projekte und Reformen dar. 40 Prozent der Mittel sollen den ökologischen Wandel vorantreiben. Draghi redet von Hochgeschwindigkeitszügen, von Kleinkinderbetreuung, von der Förderung für Firmengründerinnen. Dahinter verberge sich "das Schicksal des Landes".

Dass das detaillierte Mammutwerk überhaupt fristgerecht fertig wurde, ist nicht banal. Es ist das größte Investitionsprogramm, das bis Freitag in Brüssel abgegeben werden muss. Keinem der 27 Mitgliedsländer greift die EU so großzügig unter die Arme wie dem dauerkriselnden Mittelmeerland, das von der Pandemie besonders hart getroffen wurde. Italien ruft - Kredite mit eingerechnet - rund 200 Milliarden Euro aus dem mit etwa 800 Milliarden Euro gefüllten Hilfstopf ab. Um alle Vorhaben finanzieren zu können, schießt Rom 54 Milliarden Euro weitere Mittel dazu.

Das erklärt, warum das Land wieder im Scheinwerferlicht steht. Die römischen Pläne werden in Brüssel penibel auf ihre konkrete Umsetzbarkeit geprüft. Das liegt auch daran, dass die Italiener gegen die Skepsis der EU-Kommission ankämpfen müssen. Bis Februar 2021 hatte das Land es gerade mal geschafft, 40 Prozent der EU-Hilfen aus dem Strukturfonds für die Jahre 2014 bis 2020 auszugeben. Noch schlimmer wiegt wohl seine Reformunfähigkeit. Hinzu kommt: Mit dem Gelingen des Draghi-Plans steht oder fällt der historische Versuch der EU, ihre Zukunftschancen mit gemeinsamen Schulden zu verbessern.

Keine europäische Regierung hatte so wenig Zeit für die Aufgabe. Mario Draghi ist erst vor zehn Wochen ins Amt gekommen. Seinen Vorgänger Giuseppe Conte hatte just das Versagen bei der Ausarbeitung eines überzeugenden Aufbauplans das Amt gekostet.

In Rom vollzieht sich gerade ein Paradigmenwechsel

Ein Unterschied ihrer Pläne fällt besonders ins Gewicht: der Reformwille. Dort wo bei Conte eine große Lücke klaffte, liefert Draghi 40 Seiten Erläuterungen zu den Reformvorhaben seiner Regierung ab. Sie sollen dafür sorgen, dass die Investitionen nicht in den Stricken der italienischen Bürokratie gefangen bleiben oder ihr Effekt wegen Wettbewerbsbeschränkungen verpufft. Dass sich in Rom gerade ein Paradigmenwechsel vollzieht, erkennt man auch daran: Das Wort Produktivität kommt in Draghis Plan 49 Mal vor, das Wort Wettbewerb 42 Mal. Bei seinem Vorgänger tauchte es drei Mal auf, meist in anderem Zusammenhang.

Während Draghi im Parlament die Zukunft Italiens entwirft, streiten die Koalitionsparteien ausführlich über die Frage, ob die Restaurants nach den Lockerungen der Corona-Regeln nun wie beschlossen um 22 Uhr oder erst um 23 Uhr die Bewirtung der Gäste beenden müssen. "Bis zu welcher Uhrzeit darf man das risotto alla pescatora essen?", fasst die liberale Tageszeitung Il Foglio den aktuellen Brennpunkt des Dauerwahlkampfs zusammen.

Draghi versteckt die Risiken seines großen Plans zur wirtschaftlichen Stärkung Italiens nicht. Der parteilose Premier versucht, die römische Politik zur Verantwortung zu rufen. "Ich bin sicher, dass Anständigkeit, Intelligenz und Zukunftslust über Korruption, Dummheit und bestehende Interessen siegen werden", sagte er im Abgeordnetenhaus. Das sei kein leichtfertiger Optimismus, sondern Vertrauen in sein Volk. Doch sollten bei der Umsetzung des Plans Trödeleien, Ineffizienz oder kurzsichtige Eigeninteressen dem Allgemeinwohl entgegengestellt werden, "wird das direkt auf dem Leben von uns allen lasten", mahnte Draghi. Dann würde das Werk der Erneuerung scheitern.

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