Süddeutsche Zeitung

Italiens Regierungskrise:Countdown mit Mario Draghi

Seine letzte Auslandsreise als Premier? Mario Draghi besucht Algerien für einen zukunftsweisenden Gasdeal. Hält er am Mittwoch an seinem Rücktritt fest, muss Italien im Herbst neu wählen. In Rom läuft der Poker um die Macht.

Von Oliver Meiler, Rom

Der Termin in Algier ist schon lange geplant, fett unterstrichen: Montag, 18. Juli. Eine Wegmarke für Italiens Energiesicherheit in näherer und auch etwas fernerer Zukunft. Algerier und Italiener wollen einen neuen Gasdeal unterzeichnen, der Italiens Abhängigkeit von russischen Lieferungen massiv verringern wird. Undenkbar, dass Mario Draghi den Termin absagen könnte - selbst wenn daheim in Rom eine Regierungskrise mit allen ihren Verwerfungen schwelt. Sechs Minister reisen mit ihm.

Eine Konzession hat der Premier allerdings gemacht: Er ließ das Programm von zwei auf einen Tag komprimieren. So bleibt ihm ein voller Tag, um an der Rede zu schreiben, die er am Mittwoch im italienischen Parlament halten wird. Auch dieser Termin, der 20. Juli, ist fett markiert in der Agenda der Republik. Tritt Draghi tatsächlich zurück - oder lässt er sich erweichen? Die Journalisten, die den Ministerpräsidenten nach Algier begleiten, hoffen etwas über den möglichen Ausgang der Regierungskrise zu erfahren, eine Andeutung, den Hauch einer Ahnung.

Das Abkommen mit Algerien ist ein gutes Beispiel für Draghis proaktiven Regierungsstil. Schon kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, lancierte er eine Strategie für die Diversifizierung der Gasquellen. Italien hat 40 Prozent seines Bedarfs für Wirtschaft und private Haushalte aus Russland bezogen. Da das Land auch viel Strom aus Gas generiert, wurde diese Abhängigkeit plötzlich zu einem drängenden Problem. Über seinen Energiekonzern Eni schloss Italien schnell einige Deals, mit denen es seine Abhängigkeit noch in diesem Jahr auf 25 Prozent verringert. In zwei Jahren will man dann ganz frei sein von russischem Gas.

Algerien ist bereits der wichtigste Lieferant, über die Pipeline Transmed. Das Gas kommt aus der Sahara, durchquert Tunesien und das Mittelmeer bis Mazara del Vallo auf Sizilien und von dort weiter nordwärts. Transmed hat noch freie Kapazitäten. Italien wird dem nordafrikanischen Staat jetzt mit Investitionen helfen, damit er noch mehr liefern kann. Falls Wladimir Putin die Erpressung mit russischem Gas im kommenden Winter auf die Spitze treibt, könnte das algerische Gas über das italienische Netz sogar in den europäischen Norden gepumpt werden. Italien wäre dann ein Brückenkopf, ein Verteilungszentrum in der Not. So sieht das Mario Draghi.

Viele Italiener wollen, dass Draghi bleibt - aber reicht das aus?

Die Frage ist, ob er dann noch im Amt ist. Wäre es nach dem Premier gegangen, wäre er am vergangenen Donnerstag offenbar sofort und unwiderruflich zurückgetreten, nachdem ihm die Partnerpartei Cinque Stelle im Senat das Vertrauen verweigert hatte. Doch Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella wies den Rücktritt zurück und forderte Draghi auf, sich im Parlament zu erklären, bevor er sich erneut einer Vertrauensfrage stellen würde. Anders ausgedrückt: Mattarella fror den Rücktritt ein, in der Hoffnung, Draghi könnte seine Meinung ändern und weiterregieren - zugunsten der politischen Stabilität in extrem volatilen Zeiten.

Viele Italienerinnen und Italiener teilen diesen Wunsch. In einer Umfrage sprachen sich 65 Prozent dafür aus, dass Draghi im Amt bleibt. Mehr als tausend Bürgermeister, linke wie rechte, haben ihn darum gebeten, dazu Universitätsrektoren, Unternehmer, der Ärzteverband. Bestsellerautor Antonio Scurati schrieb in einem offenen Brief im Corriere della Sera, Draghi möge doch bitte ein weiteres persönliches Opfer auf sich nehmen für das Wohl der Allgemeinheit, auch wenn er dafür über den Schatten seiner Prinzipien springen müsse. In etlichen Städten Italiens wurden Kundgebungen für Draghi organisiert. Und natürlich kamen sorgenvolle Anrufe aus westlichen Regierungen, zum Beispiel aus Paris: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versteht sich politisch und persönlich blendend mit Draghi.

Aus der Entourage des italienischen Premiers heißt es, die vielen Appelle rührten ihn - aber ob das ausreicht, um ihn umzustimmen? Am Ende hängt alles von der Politik ab. Die Parteien senden konfuse Signale aus, es ist ihre hohe Zeit: Sie pokern.

Die Cinque Stelle zerreißen sich

Besondere Aufmerksamkeit erhalten die Cinque Stelle und ihr Chef, der frühere Premier Giuseppe Conte. Draghi hat in jüngerer Vergangenheit oft beteuert, dass seine Regierung der nationalen Einheit nur überlebt, wenn die Fünf Sterne, die Wahlsieger von 2018, auch künftig daran teilnehmen - dabei weiß er auch ohne sie eine breite Parlamentsmehrheit hinter sich. Die frühere Protestpartei erlebt eine dramatische Zerreißprobe. Die "governisti", die weiterregieren möchten, messen sich mit den "movimentisti", den Bewegten um Giuseppe Conte, die sich von einem Gang in die Opposition bessere Umfrageergebnisse erhoffen.

Vor ein paar Wochen hatten schon einige Dutzend "governisti" die Partei verlassen: Die Mitglieder der Gruppe "Insieme per il futuro" um Außenminister Luigi Di Maio werden für Draghi stimmen. Viele, die Rede ist von 35 bis 40, könnten idem Beispiel folgen, darunter zwei Minister und der Fraktionschef der Cinque Stelle in der Abgeordnetenkammer. Gut möglich, dass die Abspaltung dann größer ist als die Urpartei - aber was ist dann?

Die Rechte zeigt sich unterdessen zu Neuwahlen bereit, doch nicht alle sind gleich entschlossen. Matteo Salvini von der Lega und Silvio Berlusconi von Forza Italia, beide Partner in Draghis Regierung, möchten nie mehr mit den Sternen regieren, die sie bei der Gelegenheit "fannulloni" nennen, Taugenichtse. Dann lieber vorgezogene Neuwahlen im Herbst, sagen sie. Tatsächlich? Interessiert an einem schnellen Ende der Legislaturperiode ist eigentlich nur Giorgia Meloni, die Chefin der oppositionellen Fratelli d'Italia. Die Postfaschisten stehen in den Umfragen so hoch wie noch nie, je nach Meinungsforschungsinstitut sind als Nummer eins oder Nummer zwei im Land. Vielleicht ist auch das eine Entscheidungshilfe für Mario Draghi.

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