Datendiebstahl:„Wir können ganz Italien bloßstellen“

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Sie wissen viel, aber es könnte nur die Spitze des Eisbergs sein: Anti-Mafia-Staatsanwalt Giovanni Melillo (Mitte links) und Mailands Oberstaatsanwalt Marcello Viola (Mitte rechts). (Foto: Stefano Porta/AP)

Steuer-, Gesundheits- und Meldedaten, selbst die E-Mail-Adresse des Staatspräsidenten: Kriminelle haben in Italien Hunderttausende sensible Informationen gestohlen und Telefone angezapft. Sie hatten offenbar Helfer bei Polizei und anderen Behörden.

Von Andrea Bachstein

Die Eindringlinge kamen und gingen offenbar nach Belieben, wie Einbrecher, die ein Goldlager mit stets offener Hintertür entdecken. Nur taten sie es in der digitalen Welt: Hacker haben im Auftrag einer italienischen Firma staatliche und Firmen-Datenbanken geplündert, deren Inhalt Gold wert ist. Sie kamen an sensibelste, geschützte Informationen auf staatlichen Servern. 52 000 Mal drangen die Diebe in die Datenbank des italienischen Innenministeriums ein, griffen auf die Ermittlungsdatenbank SID der italienischen Polizei- und Sicherheitsbehörden zu. Von da gelangten sie in Melderegister, Systeme der Steuerfahndung, von Finanzämtern und wohl auch Gesundheitsbehörden. Selbst Daten des Auslandsgeheimdienstes Aise fanden die Ermittler bei Durchsuchungen. Auch die E-Mail-Adresse des Staatspräsidenten sollen sie missbraucht haben.

Das ist das Szenario, das der Mailänder Oberstaatsanwalt Marcello Viola und der Chef von Italiens Anti-Mafia- und Terrorismus-Staatsanwaltschaft, Giovanni Melillo, beschreiben. Organisierte Datenkriminalität im ganz großen Stil und mit Potenzial, Teile des Staatsapparats zu erschüttern.

Nicht nur, weil es wohl Sicherheitslücken gab, die vertrauliche Daten von Millionen Bürgern betreffen, sondern weil die Kriminellen Helfer hatten bei Polizei, Carabinieri und anderen sicherheitsrelevanten Behörden. „Die Demokratie ist in Gefahr“, sagte einer der Ermittlungsrichter. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni fordert nun gründliche Aufklärung, kein Staat könne so etwas hinnehmen. Es handle sich „im besten Fall um ein System der Erpressung“. „Im schlimmsten Fall haben wir es hier mit einem gesellschaftlichen Umsturz zu tun“, sagte Meloni, die wie ihre Schwester schon Opfer von Hackern wurde.

Der Ex-Premier, Bankchefs, der Senatspräsident: Alle wurden ausgespäht

Zu den im Mailänder Fall illegal Ausgespähten gehören der Präsident des italienischen Senats, Ignazio La Russa, und sein Sohn. Ex-Premier Matteo Renzi, Mailands Ex-Bürgermeisterin, Bankchefs und wichtige Unternehmer, Journalisten und Prominente. Die Akteure fühlten sich sehr sicher: „Wir können ganz Italien bloßstellen“, sagte einer in einem von den Ermittlern abgehörten Telefonat.

Unweit des Mailänder Doms, dem strahlenden Wahrzeichen der italienischen Wirtschaftsmetropole, liegt die Firma im Fokus der Ermittler. Sie soll agiert haben wie eine kriminelle Bande mit bester technischer Ausstattung. Das Geschäft von „Equalize“ war Informationsbeschaffung. Die ist legal, solange allgemein zugängliche Quellen genutzt werden, Spezialdatenbanken oder private Ermittler. Spätestens ab 2022 nutzte Equalize illegale Wege.

Die Firma erhielt private Aufträge in Eifersuchtsfällen und Erbfragen oder von Anwälten, von Firmen, die Mitarbeiter oder Geschäftspartner checken wollten. Die Ermittler gehen davon aus, dass auch Mafiosi Kunden waren. Equalize sammelte aber wohl auch ohne Auftrag Informationen, um sie zu verkaufen, Dinge, die Leuten schaden, sie unter Druck setzen können. „Dossieraggio“ nennt man das Anlegen solcher Giftschränke. Dafür sollen sie außer in Server auch in Handy-Chats eingebrochen sein und einiges über Medien an die Öffentlichkeit gespielt haben. Auch einigen Auftraggeber droht nun Ärger mit der Justiz.

Der Besitzer der beschuldigten Firma ist kein Unbekannter

Vor allem sei es den Tätern um Geld gegangen, rund drei Millionen Euro hätten sie auf dem Daten-Schwarzmarkt verdient. Die Vorwürfe der Staatsanwälte sind: Bildung einer kriminellen Vereinigung, verbotene Abhöraktionen, missbräuchlicher Zugang zu Informationssystemen, Korruption und Verletzung von Amtsgeheimnissen. Die Täter sollen Kontakt zu ausländischen Geheimdiensten gehabt und eine weitere Firma in London unterhalten haben. Gegen 60 Leute wird ermittelt, sechs stehen unter Hausarrest.

Der Besitzer von Equalize ist kein Unbekannter in Mailand. Enrico Pazzali ist Präsident der Fondazione Fiera Milano (Stiftung Messe Mailand), gegen die nicht ermittelt wird. Pazzali, der unter anderem Manager bei Vodafone, der italienischen Post und der Region Lombardei war, ließ den Ermittlern zufolge auch mit politischem Motiv Dossiers anlegen. Etwa vom Umfeld der früheren Bürgermeisterin Mailands und Vizepräsidentin der Lombardei. Letizia Moratti kandidierte 2023 für ein Bündnis liberaler Parteien zur Wahl um die Regionspräsidentschaft. Equalize-Chef Pazzali suchte Infos, die Moratti schaden könnten, damit der rechte Kandidat gewinnt. Er soll Ambitionen gehabt haben, Bürgermeister Mailands zu werden. 

Zentral ist der verhaftete Equalize-Geschäftsführer. Carmine Gallo auch er hatte sich einen Namen gemacht, auf der anderen Seite des Gesetzes. Er wurde in den 90er-Jahren bekannt als „Superpolizist“, leitete erfolgreich Operationen gegen die ’Ndrangheta in der Lombardei, die kalabrische Mafia, löste spektakuläre Fälle. Der nun 65-Jährige gilt als Stratege und Leiter der illegalen Aktionen von IT-Spezialisten, Hackern und Komplizen in Behörden, unternahm selbst Abhöraktionen, er nutze Beziehungen und Wissen aus seiner Zeit als Polizist.

Die illegalen Datenmengen sind enorm, ein Festgenommener sprach von sechs, sieben Millionen USB-Sticks. 800 000 Dateien eigneten sich die Täter aus dem Polizei-Ermittlungssystem SDI an. Sie sagten, Kunden, Ermittlungen und Prozesse beeinflussen zu können. Sie ließen Trojaner auf die Computer von Beamten bei Polizei, Justiz, Sicherheitsbehörden spielen, die Zugang zum SDI-System hatten und von denen sich einige kaufen ließen. Bei den Servern des Innenministeriums setzten sie auf IT-Spezialisten, die das System warteten. Innenminister Matteo Piantedosi will nun den IT-Schutz verbessern lassen.

Anti-Mafia-Staatsanwalt Melillo und Mailands Oberstaatsanwalt Viola sagten, eventuell sehe man bisher nur die Spitze des Eisbergs, vor allem beim Daten-Schwarzmarkt. Dass auch ausländische Geheimdienste Informationen erhielten, besorgt nun besonders Politiker. Die Justiz wird jedenfalls noch länger beschäftigt sein.

 

 

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