Süddeutsche Zeitung

Italien:Chor der Gefangenen

Die Isolation in den Wohnungen bringt ein ungewöhnliches Solidaritätsgefühl hervor.

Von Oliver Meiler

Aus der Stille der italienischen Städte steigt ein Chor, ein Konzert, ein herzerwärmendes Lebenszeichen. Alle paar Stunden, irgendwo im Land, treten Menschen aus der Isolation, die ihnen die Regierung wegen der Ausbreitung des Coronavirus verordnet hat. Raus auf ihre Balkone, auf die Dachterrassen oder wenigstens an ihre Fenster und stimmen Lieder an, alle miteinander, über Straßen und Piazze hinweg. Manchmal begleitet von improvisierten Schlagzeugern, die sich mit Pfannen behelfen, mal unterstützt von Trompetern zweifelhafter Güte, mal von richtig guten Tenören und Gitarrenspielern. Jeder mit seinem Talent. Zusammen musizieren, sich Mut ansingen in der Prüfung. Die häufigsten Hashtags zu diesem Gefühl in den sozialen Netzwerken sind #andratuttobene, alles wird gut, und #celafaremo, wir schaffen es.

Es kommt jetzt vor, dass man Nachbarn, die schon jahrelang neben einem leben, über deren Küchengerüche man sich nicht immer gleichermaßen freut, zum ersten Mal sieht. Und sich anlächelt, eine Lautsprecherbox im Arm. Wenn es zählt, sind die Italiener immer eine Gemeinschaft. Und kreativ. Die römische Zeitung La Repubblica schreibt von einem "kollektiven Exorzismus". Das Virus ist der Teufel, man will sich auch die Angst davor austreiben.

Am besten gelingt das noch immer mit der Nationalhymne, musikalisch der größte gemeinsame Nenner, die können alle. In Monteverde, einem Viertel Roms, hat sich ein junger Mann mit Mischpult und Verstärker auf das Dach seines hohen Wohnblocks gestellt, DJ für einige Minuten, und die Hymne Mamelis mit viel Gedonner in den Himmel geschmettert: "Fratelli d'Italia". Alle sangen mit, das ganze Viertel.

Die Idee für die Balkonkonzerte hatte eine Straßenband, die sich Fanfaroma nennt, sie postete sie auf Facebook. "Öffnen wir die Fenster", schrieb sie, "zeigen wir uns auf unseren Balkonen, und stimmen wir alle zusammen ein, auch wenn wir weit voneinander entfernt sind." Der Appell ging schnell viral, es gab bald Dutzende kleine Initiativen, überall im Land, organisiert als Flashmobs. Spätestens nach einer Woche Quarantäne freut man sich über alles Zwischenmenschliche, über etwas Austausch, sei es auch auf Distanz.

Ganz beliebt sind nun auch "Azzurro" von Paolo Conte und "Nel blu dipinto di blu" von Domenico Modugno, das die Welt als "Volare" kennt, die italienischen Paradehymnen auf die Lebensfreude. In Neapel sangen sie "Abbracciame", "Umarme mich", ein Lied des jungen Neomelodikers Andrea Sannino, voller Herzdrama, voller Schmalz. Sannino war so bewegt darüber, dass er selbst auf den Balkon trat und eine Strophe live in die Nacht sang. Premier Giuseppe Conte postete ein Video mit dem Zusammenschnitt mehrerer Aktionen, aus allen Ecken des Landes, in den sozialen Medien mit dem Kommentar: "Vielleicht trennen uns eine Türe, ein Balkon, eine Straße, aber nichts und niemand wird unsere Herzen trennen können."

Für Samstagmittag um genau 12 Uhr, diesmal national, erging der Aufruf an alle Italiener zu einer Ovation, einem langen Beifall für Ärzte und Pfleger. Und so standen überall in Italien Menschen auf ihren Balkonen und klatschten dem Personal in den Krankenhäusern im Norden des Landes zu, die unter dramatischen Bedingungen Erkrankte behandeln.

Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Allein in der Lombardei, die von allen Regionen am stärksten betroffen ist, gibt es mehr als 11 000 Infizierte, und die Fallzahl steigt noch immer schnell an, obschon das öffentliche Leben seit einer Woche stillsteht.

Von den angesteckten Menschen leiden mehr als 700 an schweren Symptomen, die meisten an aggressiver Lungenentzündung, und müssen künstlich beatmet werden. Das bringt das lombardische Gesundheitssystem an seine Grenzen. Es wurden schon Dutzende Patienten mit anderen Krankheiten in südlichere Kliniken verlegt und Korridore und OP-Säle in den Krankenhäusern zu Intensivstationen umfunktioniert, jeden Tag kommen etwa 20 neue Betten dazu. Doch bei insgesamt 1050 ist man nicht weit weg von der totalen Auslastung, nur für Patienten mit Covid-19.

Es mangelt auch an Ärzten und Geräten - und an Gesichtsmasken. Aus Rom, aus der Zentrale des nationalen Zivilschutzes, kam nun eine Lieferung mit 250 000 "mascherine". Doch waren die offenbar von dermaßen dürftiger Qualität, dass man sie gar nicht erst verteilte. "Die sind nicht mehr als ein Taschentuch mit Gummi, ein Blatt Klopapier", sagte Giulio Gallera, zuständig für das Gesundheitswesen der Lombardei. Gallera von der bürgerlichen Partei Forza Italia sieht man ständig am Fernsehen, er beklagt sich oft über die Reaktionsfähigkeit in Rom. Gemeint sind jeweils Contes Regierung und der Zivilschutz. Ganz ohne politische Polemik geht es auch in Zeiten kompakter, nationaler Einheit nicht.

Der Gouverneur der Lombardei, Attilio Fontana von der Lega, hat sich nun einen persönlichen Berater mit einem illustren Namen geholt, der, so hört man, für einen symbolischen Euro Lohn aus seinem Ruhestand in Afrika zurückkommt: Guido Bertolaso, bald siebzig, war von 2001 bis 2010 Chef des Zivilschutzes. Überschwemmungen, Erdbeben, Müllkrisen, Großveranstaltungen: Jahrelang war der Arzt Italiens oberster Krisenmanager und wegen seiner Methoden und seiner Selbstgefälligkeit nicht unumstritten. "In seinen Adern fließt kein Tropfen Bescheidenheit", schreibt der Corriere della Sera mit Ironie. Nun werde er von manchen herbeigesehnt, als wäre er "Padre Pio und Superman".

Bertolaso soll dafür sorgen, dass auf dem Mailänder Messegelände in kürzester Zeit und über alle bürokratischen Hindernisse hinweg ein Ad-hoc-Hospital mit 500 Betten entsteht. Damit soll die Notlage an den anderen Krankenhäusern gelindert und Zeit gewonnen werden. Ein bisschen wie in Wuhan, nur eben, dass das Italien ist. Bevor er in Südafrika ins Flugzeug stieg, sagte Bertolaso: "Gerne folge ich dem Ruf und helfe mit in dieser epochalen Schlacht, schließlich ist mein Leben, meine ganze Geschichte dem Dienst an meinem Land gewidmet."

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Quelle:
SZ vom 16.03.2020
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