Süddeutsche Zeitung

Italien:Bürokratie im Wolfspelz

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Die von der Regierung in Rom oft geforderte europäische Solidarität mit Italien ist gut und wichtig. Aber die Hilfsmilliarden müssen auch bei den Bedürftigen ankommen können, sonst sind sie nutzlos. Doch bisher behindern die alten Systemfehler das Land.

Von Ulrike Sauer

Die Lombardei mit ihren emsigen Industriestädten Bergamo und Brescia war das Zentrum der tödlichen Covid-Pandemie in Italien, in den römischen Regierungspalästen wird nun der Kampf um die wirtschaftliche Wiederbelebung ausgetragen. Dort liegt notorisch vieles im Argen. Zudem sind in Rom seit einem Jahr populistische Parteien - sowohl an der Macht als auch in der Opposition - mit Abstand die stärkste Kraft. So gehorcht das Koalitionsgerangel nun den Regeln des Flaggen-Spiels. Es gewinnt, wer die meisten Fähnchen in den Boden pflanzt. Familien und Firmen schauen dem lähmenden Wettstreit bestürzt zu. Im Lockdown warten sie seit neun Wochen auf Linderung, doch die Krise wird von Tag zu Tag existenzbedrohender.

Die große Not der Italiener ist die kombinierte Folge extrem harter Freiheitsbeschränkungen und verschleppter staatlicher Unterstützung. Viele der im März beschlossenen Liquiditätshilfen für Firmen, Selbständige und Kurzarbeiter hängen in der Bürokratie fest. Symbol des Versagens sind die 19 Anlagen, die Firmen mit dem Antrag auf einen staatlich garantierten Notkredit bei der Bank einreichen müssen. Verlangt wird sogar ein Geschäftsplan für die kommenden sechs Jahre. Das Geld sickert so nur tröpfchenweise in die Wirtschaft. Industrielle werfen dem Staat Sadismus vor. Im Stich gelassen fühlen sich auch die Beschäftigten der geschlossenen Betriebe. Sie warten seit März auf ihr Kurzarbeitergeld. Im Norden befürchten sieben von zehn Befragten, dass die Rezession soziale Revolten auslösen wird.

Rund um die Welt heißt es: Nach der Pandemie wird nichts mehr sein, wie es vorher war. In Italien bleibt alles wie gehabt. Neue Normalität? Nicht im Land der Zukunftsvergessenheit. Die uralten Systemfehler behindern Italien mehr denn je.

Kurz bevor das Land am Montag in großen Teilen aus dem künstlichen Koma geweckt wird, hat die Regierung von Giuseppe Conte nun ihren Rettungsring ausgeworfen. Die Koalition aus Cinque Stelle und Sozialdemokraten schnürte ein Hilfspaket mit 55 Milliarden Euro. Es gilt als epochal. Zu Recht. Schon lange hatte keine Regierung mehr die Möglichkeit, so viel Geld zu verteilen. Das Aussetzen des EU-Stabilitätspakts befreite das Schuldenland aus dem Haushaltskorsett. Conte hatte die Maßnahmen vor zwei Monaten unter dem Namen "April-Dekret" angekündigt. Nun wurde es Mitte Mai, und das Gesetz heißt jetzt "Dekret zur Wiederbelebung". In den Verhandlungen folgten die Fünf Sterne ungerührt ihrer Taktik: erst auf die Barrikaden gehen und dann unbedeutende Änderungen als heroische Siege verkaufen. So behindert der Populismus den Überlebenskampf der Wirtschaft.

Mit dem Titel "Wiederbelebung" hat das Regierungsprogramm wenig zu tun. Auf 495 Seiten und in 110 000 Worten reiht das Gesetz Hilfen aneinander, um den Krisenschock abzufedern. Es besteht aus einem Sammelsurium von 600 Maßnahmen, die alle einzeln umgesetzt werden müssen. Was fehlt, ist eine Richtung, die das Land nehmen soll. Und eine Strategie, um die Italiener von den Fesseln der Bürokratie zu befreien. Wie sonst soll das Geld bei Bedürftigen ankommen, bevor es zu spät ist? Es ist wichtig, dass Conte die europäischen Partner beharrlich zur Solidarität mahnt, doch die geforderten Milliarden sind nutzlos, wenn sie nicht den Weg in den Wiederaufbau finden.

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SZ vom 16.05.2020
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