Der Kapitän des Rettungsschiffes Humanity 1 der deutschen Organisation SOS Humanity ist auch am Dienstag bei seiner Weigerung geblieben, den Hafen des sizilianischen Catania wieder zu verlassen. Nach gut zweiwöchigem Warten hatte das NGO-Schiff mit etwa 180 aus dem Meer geborgenen Migranten dort am Sonntag anlegen dürfen. Jedoch genehmigte Italiens Rechtsregierung zunächst nur, dass Minderjährige und Frauen an Land gehen und jene, bei denen es medizinische Gründe gibt. 35 Männer mussten zurückbleiben. Sie haben inzwischen über den Kapitän der Humanity übermittelt, Asylantrag stellen zu wollen, und die NGO hat Eilantrag an ein Zivilgericht in Catania gestellt, ihr Recht sicherzustellen, Schutz zu beantragen.
Am späten Dienstagabend kam die Erlösung, aber nicht durch die Regierung: Die Gesundheitsbehörden entschieden, dass 213 Flüchtlinge vom Rettungsschiff Geo Barents sowie die verbliebenen 35 Männer von der Humanity 1 aus humanitären Gründen an Land dürfen. Drei Männer waren schon von der Geo Barents ins Wasser gesprungen und an Land geschwommen. Einer musste am Dienstag mit hohem Fieber ins Krankenhaus gebracht werden.
Einige Gerettete seien verstummt und zutiefst deprimiert
Der psychische Zustand der Männer auf dem Schiff habe sich drastisch verschlechtert, seit ihnen verweigert wurde, an Land zu gehen, berichtete Petra Krischok am Dienstag der Süddeutschen Zeitung. Die Pressesprecherin von SOS Humanity befindet sich in Catania und hat die jüngsten Einsätze auf der Humanity 1 mitgemacht. Einige der Männer waren seit mehr als zwei Wochen auf dem Schiff, nun seien sie verstummt, passiv und zutiefst deprimiert. Einer sei bewusstlos zusammengebrochen und musste mit der Ambulanz zur Behandlung gebracht werden.
Die "Selektion" derer, die zunächst von Bord durften, habe sich so abgespielt, dass die 105 Minderjährigen, darunter ein Säugling, ohne Probleme gehen konnten. Die Übrigen seien in der kleinen Bordklinik in Anwesenheit der Bordärztin von drei auf das Schiff gekommenen Medizinern befragt worden - ob sie Schmerzen hätten, sich krank fühlten. Wer verneinte, musste bleiben. Dabei, so Krischok, sei der psychische Zustand der Menschen überhaupt nicht berücksichtigt worden. Und der sei schon vor dem Einlaufen in Catania so gewesen, dass der Psychologe an Bord rund um die Uhr beschäftigt gewesen sei.
Man kann davon ausgehen, dass die Migranten auf der Humanity 1 wie die meisten Bootsflüchtlinge gezeichnet sind von Todesangst auf der in Libyen gestarteten Überfahrt, in völlig unzulänglichen, überfüllten Booten. Aber vor allem haben viele der Bootsflüchtlinge zuvor in Libyen Misshandlung, sexuelle Gewalt, Folter und andere dramatische Situationen erlebt, kaum einer, der nicht traumatisiert wird. Das gilt auch für die 215 Menschen, die ebenfalls in Catania auf der Geo Barents ausharren mussten, dem Rettungsschiff der Ärzte ohne Grenzen, das mit 572 Migranten nach langem Warten hatte landen dürfen.
Humanity-1-Kapitän Joachim Ebeling begründet seine Weigerung mit den 35 Geretteten auszulaufen damit, dass er nach internationalem Seerecht gar nicht anders handeln dürfe. Danach ist ein Rettungseinsatz erst beendet, wenn die Schiffbrüchigen sicher an Land sind. Ihm wurde ein Bußgeld von bis zu 50 000 Euro angedroht, weil er den Hafen nicht verlässt.
Salvini verweigerte schon früher Rettungsschiffen die Hafeneinfahrt
Am Dienstagabend wurde ein Schritt von der Justiz erwartet, Krischok sprach von einer Art Patt-Situation. SOS Humanity hat in Rom vor dem Verwaltungsgericht der Region Latium Klage eingereicht gegen das nach ihrer Ansicht widerrechtliche Dekret, auf dem das Vorgehen der italienischen Regierung beruht. Der Lega-nahe Innenminister Matteo Piantedosi, der von den auf den NGO-Schiffen Verbliebenen nun als "Restfracht" sprach, hatte es vergangene Woche erlassen in Abstimmung mit dem Verteidigungsminister und dem Minister für Infrastruktur, Matteo Salvini. Dem Lega-Chef unterstehen als Transportminister Häfen und Küstenwache. Er hatte als Innenminister 2018/19 mehreren Rettungsschiffen wochenlang das Landen in Italien verweigert, selbst Schiffe der staatlichen Küstenwache mit Geretteten waren betroffen.
Das Dekret verbietet der Humanity 1, sich in italienischen Gewässern länger aufzuhalten, als nötig ist, um jene an Land zu bringen, die dringend Hilfe benötigen oder besonders verletzlich sind wie etwa Minderjährige. Der Standpunkt der neuen Regierung in Rom ist, dass sich die jeweiligen Flaggenstaaten um die übrigen Migranten der Rettungsschiffe zu kümmern hätten. Der Innenminister will auch, dass die Migranten bereits an Bord Asyl beantragen sollten - beim Flaggenstaat.
Dass private Rettungsschiffe keinerlei rechtliche Kompetenz haben, Asylgesuche anzunehmen und die vorgeschriebenen Prozeduren einzuhalten, scheint für Piantedosi keine Rolle zu spielen. Auch nicht die Frage, wie entfernte Flaggenstaaten den Geretteten auf dem Mittelmeer zur Hilfe kommen können. Die Ocean Viking etwa von SOS Méditerranée fährt unter Norwegens Flagge. Aber auch Handelsschiffe nehmen immer wieder Bootsflüchtlinge auf, und zu deren häufigsten Flaggenstaaten zählen Panama, Antigua und Barbuda oder Liberia. Die Humanity 1 läuft unter deutscher Flagge, es wurden wegen ihr auch schon diplomatische Verbalnoten zwischen Rom und Berlin ausgetauscht.
Italiens Regierung wirft der Humanity 1 auch vor, sie habe unautorisierte Rettungsaktionen ausgeführt. Das weist Krischok zurück. SOS Humanity hat ein detailliertes Protokoll seiner Mitteilungen an die Seenotrettungszentrale in Rom und an Maltas Behörden veröffentlicht. Es führt minutiös Notrufe und Rettungen auf und auch alle vergeblichen Anfragen, einen Hafen zuzuweisen. Ein weiterer Vorwurf ist, dass die Humanity 1 nicht, wie vom Seerecht verlangt, den nächsten sicheren Hafen angesteuert habe, sondern die Crew von vornherein die Schiffbrüchigen nach Italien habe bringen wollen.
Nur werden die meisten Migranten, nicht nur von der Humanity 1 in einem Seegebiet geborgen, das Libyens Such- und Rettungszone ist. Doch Libyen gilt - international bestätigt - nicht als sicheres Land für Migranten und Flüchtlinge, hat mithin keinen sicheren Hafen. Und Malta habe auf keine Mitteilung der Humanity1 reagiert, sagt Petra Krischok. Das deckt sich mit dem, was alle NGOs seit Jahren über das Verhalten der Malteser berichten. Also liegen die nächsten sicheren Häfen für die NGOs in Italien, das kann Kalabrien sein, häufiger aber Sizilien.
Meloni hat die NGOs im Visier
Die von Premierministerin Giorgia Meloni, der Chefin der postfaschistischen Fratelli d'Italia, geführte Regierung in Rom, hat nie Zweifel gelassen, dass sie die NGOS im Mittelmeer im Visier hat. Sie will nicht mehr dulden, dass sie Bootsflüchtlinge nach Italien bringen und vermittelt, dass die NGOs die Hauptverantwortlichen für die Ankunft der Migranten seien.
Dass die derzeitigen Aktionen wohl vor allem der nationalistischen Propaganda dienen, dafür sprechen allein Zahlen wie die gerade 35 und 215 Menschen auf den NGO-Schiffen in Catania. Ihnen steht gegenüber, dass die italienische Küstenwache mehrere Tausend Menschen allein seit Antritt der Rechtsregierung gerettet und ohne weiteres Aufhebens an Land gebracht hat. Auch Schiffe der Carabinieri und der europäischen Grenzschutzagentur Frontex sind mit Migranten gelandet, ohne dass die Regierung in Rom das skandalisiert hat. Und im Sommer hatte das italienische Innenministerium - noch unter der Regierung Draghi - aus seinen Statistiken zu Bootsflüchtlingen ermittelt, dass nur 16 Prozent von ihnen mit NGO-Schiffen kommen.
Meloni hatte unlängst geäußert, wer wie die NGOs mit ihren Rettungsschiffen zwischen den Küsten Afrikas und Italiens pendle, um Migranten zu transportieren, verletze Seerecht und Internationales Recht, und werde zum Piratenschiff. Darauf ging in einem Radiointerview der pensionierte Admiral Vittorio Alessandro ein, der 31 Jahre der italienischen Küstenwache gedient hat, auch als ihr Sprecher. Er sagte: "Die Pflicht zur Rettung und das Recht auf Rettung kennen keine Bedingungen. Es gibt keine internationale Regel, die die Rettung auf See einschränkt, egal ob Sie sich zufällig einfinden oder dorthin gehen, weil es als notwendig erachtet wird, Leben zu retten. Und die Rettung endet im nächsten sichersten Hafen."
Seenotrettung:Eine deutsche Insel im Mittelmeer?
Italiens rechte Regierung lässt nur ausgewählte, besonders vulnerable Bootsflüchtlinge von Schiff Humanity 1 an Land. Um die anderen soll sich Deutschland kümmern.
Auch in Catania gibt es Solidarität. Unter anderen hat der Erzbischof der Stadt die Humanity 1 besucht und lässt nun Lebensmittel schicken. Politiker der Oppositionsparteien waren da, und am Hafen demonstrierten Aktivisten lautstark. Schüler besetzen ihr Gymnasium aus Protest gegen die Blockade der Migranten. "Entsetzt erleben wir die unmenschliche Behandlung der Schiffbrüchigen durch die Regierung unseres Landes", schrieben die Gymnasiasten in einer Mitteilung.
Und die Organisation SOS Méditerranée teilte am Dienstagabend mit, sie habe nun in Frankreich um Landeerlaubnis für ihr Schiff Ocean Viking gebeten, das mit 234 geretteten Menschen vergeblich auf Landeerlaubnis in Italien wartet. Den Migranten, ein Teil ist seit 18 Tagen Bord, gehe es physisch und psychisch drastisch schlechter. Einige hätten die Absicht geäußert, aus Verzweiflung über Bord zu springen, es könne jederzeit zu gefährlichen Zwischenfällen kommen. Man hoffe nun, einen Hafen auf Korsika zu finden.