Brigate Rosse:Neue Beichte im Fall Aldo Moro

Brigate Rosse: Am 20. April 1978 schickten die Entführer noch ein Foto zum Beweis, dass Moro lebt. Am 9. Mai fand man ihn tot im Kofferraum eines Autos.

Am 20. April 1978 schickten die Entführer noch ein Foto zum Beweis, dass Moro lebt. Am 9. Mai fand man ihn tot im Kofferraum eines Autos.

(Foto: picture-alliance / dpa)

"Wenn ich rede, dann wackeln die Pulte des halben Parlaments": 37 Jahre, nachdem die Roten Brigaden Aldo Moro entführten und hinrichteten, bricht ein Mafia-Boss sein Schweigen. Die Aufnahmen werden sofort versiegelt.

Von Oliver Meiler, Rom

Es gibt Neues im Fall Aldo Moro. Und das klingt zunächst wie ein Hohn: Aldo Moro wurde 1978 ermordet. Vor mehr als 37 Jahren also. Von den Roten Brigaden. Es war ein Trauma sondergleichen für die Republik, für Italien.

Das ikonenhafte Bild aus der Geiselhaft, das den Christdemokraten müde lächelnd und unrasiert unter dem Symbol und dem Schriftzug der Linksterroristen zeigt, die Tageszeitung La Repubblica vor der Brust, war noch schwarzweiß. So lange ist das her. Aufgeklärt aber wurde der Fall nie.

Es gibt also Neues über die Entführung und Ermordung des früheren italienischen Ministerpräsidenten, ausgebreitet auf 188 Seiten eines Berichts der zuständigen parlamentarischen Untersuchungskommission, der "Commissione Moro". Es ist ein Zwischenrapport nach 46 Anhörungen und 58 Sitzungen.

Halbe Million neuer Dokumente

Genährt wurde er vom Studium einer halben Million neuer Dokumente. Mit neuem Fotomaterial werden gerade 3-D-Animationen erstellt, um die Szene des Hinterhalts zu rekonstruieren, mit allen Gesichtern der Schaulustigen darauf. Von einigen nimmt man an, dass sie nicht zufällig dort standen.

Manches im Bericht ist erst angedeutet, weil es noch vom Staatsgeheimnis gedeckt wird. So vor allem die Aussagen des ehemaligen Oberbosses der Camorra, Raffaele Cutolo, der nun plötzlich redet, nachdem er bisher immer gelobt hatte, er werde nie reden. Eine Sensation. Man hält Cutolo für einen glaubwürdigen Zeugen, vielleicht sogar für den zentralen Zeugen bei der Aufarbeitung des Falls. Das mag erstaunen, zumindest auf den ersten Blick, da Cutolo damals im Gefängnis saß.

Erstaunlich ist auch, dass die Mitglieder der Parlamentskommission den Bericht einstimmig angenommen haben. Das kommt selten vor in Italien, gerade bei einem großen Fall wie diesem, einem sogenannten Mistero d' Italia, einem scheinbar ewigen, unsäglichen Rätsel des Landes.

Der 16. März 1978 ist ein Donnerstag. Italien soll an diesem Tag eine neue Regierung erhalten. Als Präsident der Democrazia Cristiana, der mächtigsten Partei im Land, ist Aldo Moro eine Schlüsselfigur. Und er ist einer der Vordenker des "Historischen Kompromisses".

Vorbei an der Bar Olivetti

So nennt man den kontroversen Versuch, die rivalisierenden Kommunisten und Christdemokraten in einer Regierung miteinander zu verbünden, zur Errettung der gefährdet gewähnten Demokratie. Mitten im Kalten Krieg. Auch im Ausland, im Spannungsfeld zwischen Washington und Moskau, schaut man mit viel Argwohn auf Moros Bemühungen. Keine kommunistische Partei im Westen ist in dieser Zeit so stark wie der PCI, der Partito Comunista Italiano.

Via Fani, Rom, 9.05 Uhr. Aldo Moro fährt wie jeden Morgen nach der Messe am Blumenstand mit den Tulpen und Mimosen vorbei, der an der Straßenecke steht, passiert die Bar Olivetti. Er sitzt auf der Rückbank seines Dienstwagens, einem Fiat 130, liest die Tagespresse. Dann geht alles ganz schnell. Der Hinterhalt dauert nur einige Minuten. Fünf Bodyguards der Leibwache werden getötet, Moro wird entführt. Das Kommando entkommt.

Im Fall Aldo Moro bleibt der Staat hart

55 Tage dauert die Geiselhaft. 55 Tage, ohne dass die italienische Polizei herausfindet, wo Moro festgehalten wird. Zunächst fordern die Entführer die Befreiung von 13 inhaftierten Rotbrigadisten gegen die Freilassung Moros. Danach senken sie ihre Forderungen - bis auf einen einzigen der Ihren gegen den früheren Premier. Doch der italienische Staat bleibt hart, so hart wie nie zuvor. Papst Paul VI. macht sich stark für Moro, die Vereinten Nationen, das Rote Kreuz. Nichts hilft.

Am 9. Mai 1978 findet man die Leiche Moros im Kofferraum eines gestohlenen Wagens, geparkt in der Via Caetani, einer Straße im Zentrum Roms, auf halbem Weg zwischen den Hauptsitzen der Democrazia Cristiana und des PCI. Mit neun Schüssen haben sie Aldo Moro hingerichtet. Er wurde 61 Jahre alt.

Im Nachhinein kann man sagen, dass die Brigate Rosse mit der Ermordung Moros den Bogen überspannt haben. Wahrscheinlich ahnten das die Terroristen damals schon. Sie hätten es wohl vorgezogen, der Staat wäre auf den Tauschhandel eingegangen und hätte sich gebeugt. Dann wäre die Operation ein Triumph gewesen. So nicht, so schwand bald alle Unterstützung. Und doch fragen sich die Italiener bis heute, warum der Staat gerade im Fall Moro so unnachgiebig war, ob es nicht möglich gewesen wäre, ihn zu retten.

Und hier kommt nun Raffaele Cutolo ins Spiel, Gründer und Pate der sogenannten Nuova Camorra Organizzata, den sie in Neapel früher "O Professore" nannten, weil er lesen und schreiben konnte. Er behauptet, dass er Moro hätte retten können, wie ihm das bei einer anderen Geisel der Roten Brigaden ebenfalls gelungen war. Dank seiner Kontakte in die Unterwelt, zur kampanischen und der kalabrischen Mafia, die den Terroristen Waffen und Geld besorgten.

Cutolo sitzt seit mehr als 50 Jahren im Gefängnis, 34 davon in Isolationshaft, verurteilt wegen vieler Morde. In der Blütezeit seiner Organisation hatte er 7000 Mann unter Waffen. Die Haft hinderte ihn nicht am Regieren. Seine Schwester, alias "U Signurina", das Fräulein, trat als seine Statthalterin auf, befand über Leben und Tod.

Cutolo weigerte sich stets, als Kronzeuge mit der Justiz zusammenzuarbeiten, wie das andere "reumütige" Mafiosi taten, die dafür mit Haftprivilegien entschädigt wurden. "Ich bereue nur vor Gott", sagte er immer, "nicht vor den Menschen." Er sei doch keine Jukebox, in die man mal schnell eine Münze werfe, damit sie singe.

Aufnahmen sofort versiegelt - zu brisant

Der Staat verwahrte ihn deshalb unter einem besonders strikten Regime. Heiraten ließ man ihn dann doch, im Gefängnis. Seine viel jüngere Frau Immacolata Iacone bekam ein Kind von "O Professore", durch künstliche Befruchtung. Cutolo ist nun 74 Jahre alt, sitzt im Hochsicherheitsgefängnis von Parma und darf Frau und Tochter immer noch nur jeden dritten Samstag sehen. Nur kurz, eine Stunde jeweils.

Ist er müde? Singt er deshalb? Bevor Cutolo mehrere Stunden lang mit einem Entsandten der Untersuchungskommission und einem Offizier der Carabinieri über den Fall sprach, hatte er ausrichten lassen: "Wenn ich rede, dann wackeln die Pulte des halben Parlaments." Die Aufnahmen wurden sofort versiegelt. Zu brisant.

Während des 55-tägigen Geiseldramas um Moro hatten, wie man heute weiß, Geheimdienstagenten und Politiker Cutolo im Gefängnis besucht. Auch prominente Figuren waren dabei, alle inkognito. Sie sollen die Haftanstalt in Ascoli Piceno, wo Cutolo in jenen Jahren einsaß, jeweils durch einen Seiteneingang betreten haben, um nicht gesehen zu werden. Niemand schien besser Bescheid zu wissen als der Oberboss hinter den dicken Mauern.

Der Präsident der "Commissione Moro", Beppe Fioroni, sagte bei der Präsentation des Berichts: "Das Land und das Gedenken an Aldo Moro haben es verdient, dass die Wahrheit endlich ans Licht kommt." In der Tat.

Die Wahrheit ist trüb

Doch den Italienern kommt es schon lange so vor, als wollte man ihnen diese Wahrheit gar nicht offenbaren, allen Kommissionen und Untersuchungen zum Trotz. Weil die Wahrheit besonders trüb ist. Weil man die Guten und die Bösen danach nicht mehr leicht auseinanderhalten könnte. Weil darob elementare Gewissheiten ins Wanken gerieten, vielleicht auch Institutionen.

Weil manche Protagonisten aus den Sechzigern und Siebzigern, den bleiernen Jahren des Terrorismus und der versuchten Staatsstreiche, der Verstrickungen zwischen der Mafia und dem Staat, der subversiven Freimaurerlogen und der leidlich vertrauenswürdigen Geheimdienste noch am Leben sind - oder wenigstens deren unmittelbare Nachfahren, die biologischen oder die politischen.

Im Mordfall Moro fließen viele Verdachtsthesen und Verschwörungstheorien ineinander. Fioroni sagte auch, seine Kommission habe schon viele alte Lügen aufgedeckt. Verdächtig alte, 37 Jahre alte.

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