Vier Scheiben Zwieback, ein Butterbrot, zwei Portionsdöschen Marmelade oder Honig, das Frühstück steht schon fest. Wann es zum ersten Mal auf den Tisch kommt in Gjadër und Shëngjin ist weniger klar. Am 20. Mai hätten dort im Nordwesten Albaniens Erstaufnahme- und Abschiebungszentren öffnen sollen für Flüchtlinge, die übers Mittelmeer Italien erreichen wollen. Premierministerin Giorgia Meloni präsentierte im November den Überraschungscoup als großen Erfolg: die Vereinbarung mit Albaniens Regierungschef Edi Rama, dass Italien bis zu 36 000 Bootsflüchtlinge jährlich in diese Zentren bringen kann, um das eigene Aufnahmesystem zu entlasten. Laufzeit: fünf Jahre.
So sollen Migranten, nur erwachsene Männer aus sicheren Herkunftsländern, die kaum Aussicht auf Asyl haben, gar nicht erst ins Land kommen. Es ist das große Versprechen der Rechtsregierung in Rom, irreguläre Immigration einzudämmen. Italien preschte vor mit dem Modell, außerhalb des Landes Flüchtlinge aufzuhalten und zu überprüfen. Erst im April beschlossen die EU-Länder in ihrer Asylreform, an den Außengrenzen ein derartiges System aufzubauen. Und das Rom-Tirana-Modell scheint Bundesinnenministerin Nancy Faeser besonders zu interessieren: "Ich schaue mit Spannung darauf, was Italien gemeinsam mit Albanien macht", sagte sie dem Stern.
653 Millionen Euro hat das Finanzministerium in Rom veranschlagt
Sie muss sich gedulden. Ehe die ersten Migranten nach Shëngjin und Gjadër gebracht werden, vergeht mindestens der Sommer, die Zeit, in der die meisten Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer unterwegs sind. Meloni hätte vermutlich zur Europawahl gern mit den Zentren in Albanien geworben, doch die Eröffnung ist auf November vertagt. Erst prüfte Albaniens Verfassungsgericht das von Edi Rama praktisch im Alleingang angestoßene Vorhaben, im Februar segneten es die Parlamente beider Länder ab. Vor allem aber zieht es sich, weil abseits der Adriaküste mit ihren Touristenhotels auf dem einstigen Militärgelände bei Gjadër alles fehlt, um bis zu 3000 Menschen unterzubringen.
Die Zeitung Il Fatto Quotidiano veröffentlichte Fotos von dort, sie zeigen ein altes Flugfeld und angegammelte Schützenbunker. Pioniereinheiten der italienischen Armee sollen nun für den Bau von Gebäuden und Infrastruktur sorgen. Italiens Finanzministerium hält im Kostenplan fest, dass auf dem 77 000-Quadratmeter-Areal ausreichende Strom- und Wasserversorgung fehlen und mangels Kanalanschlusses eine Kläranlage nötig wird. Auch der Hafen im Küstenstädtchen Shëngjin muss für die Schiffe mit Migranten ausgebaut werden.

Was die Migranten an Mahlzeiten und Kleidung erhalten, die Schichten von Psychologen und mehr steht in der Ausschreibung für den Betrieb des Zentrums Gjadër. Italiens Innenministerium hat sie eilig durchgezogen. Den Zuschlag erhielt die Firma mit dem günstigsten Angebot, sie betreibt in Italien schon Flüchtlings- und Betreuungseinrichtungen, nicht immer vorbildlich, bemängelten Flüchtlingsorganisationen.
Der meiste Aufwand entsteht erst durch die Verlagerung ins Ausland
Ungefähr 30 Millionen Euro erhält der Betreiber über fünf Jahre hinweg. Quasi ein Klacks angesichts der Gesamtkosten des Projekts: 653,5 Millionen Euro hat das Finanzministerium in Rom bis 2028 kalkuliert, und keiner weiß, ob das reicht. Da sind Baumaßnahmen samt einem kleinen Gefängnis und Personalwohnungen. Am meisten zu Buche schlägt das Personal. Innerhalb der Mauern des Zentrums gilt das Recht Italiens, es muss alle Beamten stellen, ob Juristen oder Sicherheitskräfte. Man rechnet mit 152 zusätzlichen Richtern und Beamten der Ministerien für Inneres, Justiz und Gesundheit, dafür sind 42,5 Millionen Euro vorgesehen.
Jeder Staatsbedienstete verursacht beim Einsatz in Albanien Reise- und Unterbringungskosten, erhält Auslandszuschläge, muss versichert werden. Jemand hat errechnet, das allein koste 138 000 Euro am Tag. Jedenfalls hat das Finanzministerium derartige Aufwandskosten nur für Carabinieri, Polizisten, Finanzpolizisten und Vollzugsbeamte mit 260 Millionen Euro bis 2028 veranschlagt. Und 94 Millionen Euro für albanische Kräfte, die das Gelände von außen bewachen. Die Verfahren der Migranten sollen in Videokonferenz mit dem Gericht in Rom ablaufen, dort wie in Gjadër sind Räume, Technik und Personal nötig, macht knapp 31 Millionen Euro.
Dazu kommen Reisespesen von Anwälten, Übersetzern und Verwaltungskosten. Und ein Posten von 104 Millionen Euro - für das Chartern von Schiffen, die am Ende alle Flüchtlinge von Albanien nach Italien bringen. Denn die Idee ist: Jeden Monat kommen 3000 Menschen ins Zentrum, und 3000 verlassen es Richtung Italien. Ein kleinerer Teil, der dort Asyl oder anderen Schutzstatus erhält, der größere Teil, um von Italien aus zurückgeführt oder abgeschoben zu werden, das ist eine Säule des Modells.
Selbst Albaniens Premier bezweifelt, dass das Modell funktioniert
Die Aufstellung zeigt, dass allermeisten Kosten entstehen, weil Migranten vorübergehend in ein Nicht-EU-Land ausgelagert werden. Flüchtlingsorganisationen und Oppositionspolitiker fragen da, ob es nicht viel sinnvoller wäre, Geld für Flüchtlingsstrukturen in Italien auszugeben und dafür, dass die Justiz die Verfahren schneller bewältigt.
Zumal nicht sicher ist, ob das Albanien-Projekt die Strukturen in Italien wirklich entlastet. Skeptiker prophezeien einen teuren Flop. Schon die Zahl von 3000 Migranten, die Gjadër im Monat durchlaufen sollen, wirft Fragen auf. Laut Ausschreibung sind 880 Plätze in normalen Unterkünften und 150 in einer Abschiebestruktur geplant, alles soll wie eine Art Drehtür funktionieren mit beschleunigten Prüfverfahren in maximal 28 Tagen.
Das bezweifelt aber selbst Albaniens Premier Rama; "das Problem wird, das Zentrum am Funktionieren zu halten", sagte er jetzt der Zeitung La Repubblica: "Wie will man 3000 Leute in 28 Tagen rotieren lassen mit italienischer Bürokratie und EU-Regeln?" Was er meint, ist, dass Verfahren auch länger dauern werden und so mit der Zeit immer weniger Plätze für neu Ankommende blieben. Erst recht für die Abschiebehaft, die bis zu 18 Monaten dauern soll. Ist Gjadër voll, müssen alle Migranten nach Italien.
Die Auswahl der Flüchtlinge für Albanien könnte auf See schwierig werden
Bisher werden von dort im Monat durchschnittlich nur 400 Migranten abgeschoben oder zurückgeführt, 2023 waren es 4750 bei rund 160 000 angekommenen Bootsflüchtlingen. Sollen es deutlich mehr werden, braucht es mit den Herkunftsländern eine enge Kooperation, und die ist das Problem, mit dem alle EU-Länder kämpfen. Es könnten bald so viele Migranten wie bisher in Italiens Abschiebezentren und Flüchtlingsstrukturen landen.

Wie die Männer ausgewählt werden, die nach Albanien sollen, wirft auch Fragen auf. Laut Abkommen geschieht das in internationalen Gewässern, wenn Marine, Küstenwache, Polizei oder Carabinieri Flüchtlingsboote aufgreifen. Was sehr oft so aussieht, dass sie die Migranten erst aus Seenot retten müssen, teils unter dramatischen Umständen. Schwer vorstellbar, dass dann gleich entschieden werden kann, wer nach Gjadër muss. Erst recht, da viele Migranten und Flüchtlinge keine Ausweise haben, einige auch keine Angabe zu ihrer Herkunft machen. Unpraktisch ist dazu, dass die Routen der meisten Flüchtlingsboote 600, 700 Kilometer weit abliegen von Shëngjin. Marineschiffe, die Migranten dorthin bringen, wären jedes Mal hin und zurück etwa drei Tage unterwegs.
Bleiben die Rechte der Flüchtlinge wirklich gewahrt?
Und dann die juristischen Fragen: Bleiben die Rechte der Flüchtlinge wirklich gewahrt? Darf man ihnen verbieten, sich außerhalb des Zentrums zu bewegen, wie es im Vertrag mit Tirana steht? Wird der Europäische Gerichtshof verbieten, dort Menschen mehr als 48 Stunden festzuhalten? Sind bis zu 18 Monate Abschiebehaft rechtens?
Im Europawahlkampf reden Italiens Regierungsparteien nicht sehr viel von irregulärer Migration. Die Lage ist gerade relativ entspannt, bis 27. Mai kamen 19 592 Bootsflüchtlinge an, im Vorjahr waren es zur gleichen Zeit 47 851.
Experten bezweifeln, dass der starke Rückgang, wie es aus der Regierung heißt, vor allem am Abkommen Italiens und der EU mit Tunesien liege. Das Land soll Hunderte Millionen Euro erhalten, um Schleuserboote aufzuhalten. Laut UNHCR gelangen weiter mehr als 70 Prozent der Bootsflüchtlinge von Tunesien nach Italien. Dass es derzeit noch eher wenige sind, liegt wohl eher am Wetter: So kam im April 19 Tage lang gar kein Migrant übers Meer nach Italien - es herrschte schlichtweg hoher Seegang.