Türkei:"Auf einmal sollen Menschen weg, praktisch über Nacht"

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"Die Leute haben versucht, sich hier eine Existenz aufzubauen, sie haben zur türkischen Wirtschaft beigetragen". Mitarbeiter eines syrischen Restaurants in Istanbul. (Foto: Bulent Kilic/AFP)
  • Der türkische Innenminister Süleyman Soylu hat Kontrollen in Betrieben angeordnet, die im Verdacht stehen, "nicht registrierte" syrische Flüchtlinge zu beschäftigen. Sie sollen bis zum 20. August die Stadt verlassen.
  • In Istanbul sind 547 000 Syrer "mit vorübergehendem Schutz", wie es offiziell heißt, eingetragen.
  • Der Innenminister behauptet, die Polizeioperation habe "mit den Wahlen nichts zu tun", man müsse "Ordnung schaffen".

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Im Istanbuler Stadtteil Okmeydanı gibt es Straßen, die haben keinen guten Ruf. Die militante kurdische PKK hatte hier eine Art innerstädtische Hochburg. Polizeirazzien waren Alltag. Nun ist es ruhig, geblieben aber ist die Armut, in viele billige Wohnungen sind syrische Flüchtlinge gezogen. Arbeit fanden sie in kleinen Textilbetrieben, legalen und illegalen, in Kellern und hinter abgedunkelten Scheiben. Nun bleiben viele Rollläden unten, Nähmaschinen stehen still.

"Die Syrer haben jetzt Angst auf die Straße zu gehen", sagt Menal Acar, "sie fürchten, die Polizei könnte sie festnehmen." Acar ist 32 Jahre alt, er sagt: "Weil ich einen türkischen Pass habe, kann ich frei sprechen." Innenminister Süleyman Soylu hat Kontrollen in Betrieben angeordnet, die im Verdacht stehen, "nicht registrierte" syrische Flüchtlinge zu beschäftigen. Bis 20. August sollen sie die Stadt verlassen, so eine Anordnung des Gouverneurs.

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"Auf einmal sollen Menschen weg, die schon lange hier sind, praktisch über Nacht", sagt Acar. Er sitzt auf einem blauen Plastikstuhl, eine Klimaanlage fächelt eiskalte Luft, es gibt Comiczeichnungen an den Wänden und das Signet des Lions Clubs. Wohlhabende Türken haben das Haus der "Syrian Can Assembly", eines Flüchtlingsvereins in Okmeydanı, mitfinanziert. Acar spielt hier mit Kindern Theater, als freiwilliger Helfer. Sprachkurse bieten sie auch an und psychologische Hilfe für die vom Krieg Traumatisieren. "Die Leute haben versucht, sich hier eine Existenz aufzubauen, sie haben zur türkischen Wirtschaft beigetragen", sagt Acar.

Der Innenminister bestreitet Abschiebungen in syrische Kampfgebiete

Neben ihm sitzt Ozan Akdağ, der Vorsitzende des Vereins. Er stammt aus Kamischli, an der Grenze zur Türkei. Akdağ spricht Kurdisch und ein wenig Türkisch. Er sagt, ein syrischer Freund habe gerade in Istanbul ein Restaurant eröffnet, 200 000 Dollar investiert. "Die Polizei war da. Sie haben gesagt, er muss nach Gaziantep." Weil er dort als Flüchtling registriert ist. Gaziantep liegt 1150 Kilometer von Istanbul entfernt.

Viele Syrer sind in Orten registriert, wo es weniger Arbeit gibt als am Bosporus. Die Zahl dieser Zuwanderer und all jener Syrer, die ganz ohne Papiere in Istanbul leben, kann man nur schätzen, die Vermutungen gehen weit auseinander: von 30 000 bis 300 000. Eingetragen sind in Istanbul 547 000 Syrer "mit vorübergehendem Schutz", wie es offiziell heißt. Soylu hat zwar inzwischen versichert, nur die "Illegalen" sollten gehen, und wenn sie nicht gingen, würde man sie zwingen. Aber die allgemeine Verunsicherung ist groß. "Die Hoffnung ist weg", sagt Acar. Lange zeigte sich die türkische Gesellschaft tolerant gegenüber den geschätzt fast vier Millionen Menschen, die seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges 2011 über die 900 Kilometer lange gemeinsame Grenze kamen.

In Istanbul gibt es 47 syrische Vereine, sie haben eine Plattform, für die Mehdi Davut spricht. Er sagt, in der Türkei fehle ein Konzept zur Integration der Syrer, die nicht zurückkönnen. (Foto: privat)

Recep Tayyip Erdoğans Partei nannte sie "Gäste", sprach von humanitärer Verpflichtung und Solidarität unter Muslimen. Nun aber sagt eine Mehrheit der Türken in Umfragen, die Syrer seien neben der Wirtschaftskrise das größte Problem. Auch Oppositionspolitiker haben den Ton verschärft. Der neue Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu nannte die Flüchtlingsfrage gar ein "Trauma" und beschwerte sich über arabische Schilder. Republikgründer Atatürk hatte einst die arabische Schrift abgeschafft, mit der auch das Türkische geschrieben wurde, um das Land dem Westen anzuschließen. In Imamoğlus säkularer Partei CHP ist die Überzeugung verbreitet, Erdoğan wolle mit seiner "Großzügigkeit" gegenüber den Syrern die Türkei "arabisieren".

In Istanbul gibt es 47 syrische Vereine, sie haben eine gemeinsame Plattform, für die spricht Mehdi Davut. Er ist Arzt, 37 Jahre alt und seit acht Jahren in der Türkei. In seiner Privatklinik im Stadtteil Fatıh, wo sich auch die größten Istanbuler Sehenswürdigkeiten befinden, sprechen Mediziner und Patienten arabisch. Die Klinik füllt ein ganzes Haus, Davut sitzt im fünften Stock. "Ich habe die AKP unterstützt", sagt er. Nun kritisiert er, was die Regierung tut. "Sie haben die Wahl in Istanbul verloren, die Syrer zahlen die Zeche." Davut glaubt, dass es höchstens ein paar Zehntausend Nichtregistrierte in Istanbul gibt. "Aber für jeden, der abgeschoben wird, ist ein Stadtviertel in Aufruhr." Davut sagt, Flüchtlinge würden nach Syrien abgeschoben, nach Afrin und in die immer noch umkämpfte Region Idlib, über inoffizielle Grenzübergänge. "Die Zahlen kennt nur die türkische Polizei." Der Innenminister hat solche Abschiebungen bestritten. Er sagte auch: Die Polizeioperation habe "mit den Wahlen nichts zu tun", man müsse "Ordnung schaffen".

Acar sagt, der Druck werde dazu führen, "dass wieder mehr Menschen nach Europa wollen"

Man zwinge die Abgeschobenen, Erklärungen zu unterschreiben, dass sie "freiwillig" ausreisen, sagt der Arzt Davut. Die Formulare findet man inzwischen im Internet. Auch Familien würden zerrissen, sagt Menal Acar vom Verein in Okmeydanı. Er zeigt ein Video, das ein junger Syrer aufnahm, den man angeblich abgeschoben hat. Der erzählt, er habe seinen Ausweis nicht dabei gehabt, als die Polizei ihn kontrollierte. Man habe ihn gezwungen, das auf Türkisch verfasste Formular zu unterschreiben. Überprüfen lässt sich das nicht. Acar sagt, der Druck werde dazu führen, "dass wieder mehr Menschen nach Europa wollen". Regierungszeitungen beugen möglicher Kritik schon vor. Sie schreiben, die Türkei habe mehr Flüchtlinge aufgenommen als die ganze EU.

Was fehlt, sagen Flüchtlingshelfer, ist ein Konzept zur Integration derjenigen, die nicht zurückkönnen, auch wenn alle Waffen schweigen. Noch immer gehen nicht alle Kinder in die Schule, viele Betriebe beschäftigen Syrer lieber ohne Versicherung. Jeden Tag, sagt der Arzt Davut, würden in Istanbul etwa 90 Babys geboren, deren Eltern Syrer sind. Ihre Zukunft ist ungewiss. 1000 Dollar und mehr verlange das syrische Konsulat für einen Pass, heißt es. Das können sich nur wenige leisten. Aber ins Konsulat wollen viele sowieso nicht gehen, weil sie das Regime, vor dem sie geflohen sind, immer noch fürchten.

© SZ vom 27.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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