Spielt Beşiktaş Istanbul gegen den Fußballklub Medipol Başakşehir, dann sind die Sympathien klar verteilt. Beşiktaş-Fans sind eher Oppositionsanhänger, Tabellenführer Başakşehir gilt als regierungsnah. Mustafa Sönmez, ein bekannter Istanbuler Ökonom, ist glühender Beşiktaş-Fan. Am Sonntagmorgen gegen vier Uhr - nach dem Süper-Lig-Spiel - holten ihn Polizisten aus dem Bett. Der Vorwurf: Präsidentenbeleidigung. Sönmez hatte seine Freude über das 2:1 für Beşiktaş in einem Video über Twitter geteilt: Fans, die ihr Bierglas erheben und Präsident Recep Tayyip Erdoğan zuprosten. "Şerefine Tayyip", Prost, Tayyip.
Erdoğan ist selbst ein großer Fußballfan, hat in seiner Jugend als Amateur gespielt. Das gilt auch für den Oppositionspolitiker Ekrem Imamoğlu, den Überraschungssieger der Kommunalwahl vor zwei Wochen, der noch immer nicht Bürgermeister sein darf, weil Erdoğans AKP in Istanbul zählen und zählen lässt. In einem Stadtteil jetzt zum dritten Mal. Regierungszeitungen schreiben seit Tagen, dass die AKP eine Wiederholung der ganzen Wahl will. Sogar ein Datum wird schon genannt: 2. Juni. Und was macht Imamoğlu, der - letzter Zählstand - nur noch mit 13 996 Stimmen vor seinem Gegner liegt? Er geht ins Stadion.
Am Samstag saß der 48-Jährige auf der Beşiktaş-Tribüne, und in der Arena brüllten Tausende Fans, als hätte er gerade einen Elfmeter geschossen: "Gebt ihm die Urkunde, gebt Imamoğlu die Urkunde!" Danach warfen die Ultranationalisten, bei der Wahl Partner der AKP, Imamoğlu vor, er wolle die Rivalität der Klubs "in Feindschaft" verwandeln. Der konterte, er habe schon vor der Wahl versprochen, die Spiele der Istanbuler Klubs zu besuchen. Am Sonntag ging er dann zum Erstligaspiel zwischen Fenerbahçe und Galatasaray. Wieder wurde von den Rängen gerufen: "Gebt ihm die Urkunde!" Die Klubs seien "bedroht" worden, damit sie ihn nicht ins Stadion lassen, sagte Imamoğlu einer konservativen Journalistin, die ihn kritisiert hatte. Von wem, sagte er nicht. Das Spiel am Sonntag ging unentschieden aus, nach zehnminütiger Nachspielzeit. Ob es auch im Match um das Istanbuler Rathaus in die Verlängerung gehen wird, entscheidet die Oberste Wahlbehörde in Ankara.
Der Druck auf diese Schiedsrichter dürfte enorm sein. Erdoğan hat die eigene Mannschaft bereits abgewatscht. Vergangene Woche drohte er im Parteivorstand: "Ich werde kein Mitleid zeigen." Es werde "durch und durch Veränderungen geben", sagte er nach Angaben des Oppositionsblattes Cumhuriyet. Seit 1994 war Istanbul in Händen der Konservativen. Nun hängen aber städtische Angestellte ihr Fähnchen schon in den Wind: "Sie haben sofort angefangen, sich auf andere Plätze zu begeben", schimpfte Erdoğan.
In einem Stadtteil schickte die AKP schon die Polizei von Haus zu Haus, um nachträglich die Wählerregister zu überprüfen. Am Montag beharrte der AKP-Bewerber, Ex-Premier Binali Yıldırım: Es habe "Abnormalitäten und Rechtsverstöße" bei der Wahl gegeben. Der Spielausgang ist also weiter offen. Beşiktaş-Fan Sönmez ist inzwischen wieder frei. Es ging um 20 Tweets, sagte er der SZ. Ob er angeklagt wird, weiß er noch nicht.