Internationale Raumfahrt:Mein Orbit, dein Orbit

ISS

Eine Aufnahme zeigt die Internationale Raumstation und die Erde darunter. Russland will nach 2024 aus der Internationalen Raumstation ISS aussteigen.

(Foto: dpa)

Russland will sich von der ISS zurückziehen und eine eigene Station bauen. Geht das so einfach?

Von Silke Bigalke und Marlene Weiß

Am Dienstag saß der neue Direktor der russischen Weltraumbehörde dem Kremlchef in einem dieser schweren Polsterstühle gegenüber, in denen Wladimir Putin seine Gäste oft Platz nehmen lässt, und verkündete den Ausstieg aus der Internationalen Raumstation ISS. "Die Entscheidung, diese Station nach 2024 zu verlassen, ist gefallen", sagte Jurij Borissow, Russland werde mit dem Bau seiner eigenen Weltraumstation im Erdorbit beginnen. "Gut", kommentierte Putin knapp.

Borissow ist neu in der Rolle des Roskosmos-Direktors, Mitte Juli löste er Dmitrij Rogosin ab. Rogosin hatte bereits im April mit einem Ende der Kooperation im Weltraum gedroht: Es könne erst dann wieder "normale Beziehungen" zwischen den ISS-Partnern geben, schrieb er auf Twitter, "wenn illegale Sanktionen vollständig und bedingungslos aufgehoben werden". Schon bevor Putin im Februar seinen Feldzug gegen die Ukraine begann, galt die ISS als einer der letzten Orte, an denen Russen und Amerikaner ungeachtet wachsender politischer Spannungen weiterhin gut miteinander kooperierten. Zuletzt erforderte das friedliche Miteinander im Weltall jedoch auch schon mal sehr entschlossenes Wegschauen - etwa dann, wenn die russischen ISS-Raumfahrer Flaggen der selbsternannten Separatistenrepubliken Luhansk und Donezk in die Kamera hielten.

Russische Raumfahrtfunktionäre haben allerdings schon lange vor dem 24. Februar laut über mögliche Pläne gesprochen, die Weltraumstation zu verlassen. Konkret sind sie dabei nie geworden, und auch jetzt hat Moskau seine Partner laut der US-Raumfahrtbehörde Nasa noch nicht offiziell über die Ausstiegspläne informiert. Die Nasa-Managerin Kathy Lueders sagte am Mittwoch der Nachrichtenagentur Reuters sogar, sie habe von russischen Kollegen erfahren, dass Russland sich doch mindestens bis 2028 an der ISS beteiligen werde. Bisher ist also unklar, inwieweit sich Borissows Ankündigung nun von früheren Gedankenspielen unterscheidet.

Schließlich hatte Borissow bereits im Frühjahr 2021 erklärt, dass Russland eine eigene Weltraumstation plane. Seine Partner werde Moskau warnen, dass es die ISS womöglich schon im Jahr 2025 nicht weiter nutze. Borissow war damals als Vizepremier zuständig für Verteidigung und Weltraumfragen. Der Zustand der Station lasse zu wünschen übrig, ihre Lebensdauer sei längst abgelaufen, klagte er. Auch Rogosin sagte russischen Medien damals, 80 Prozent der Ausrüstung im russischen Teil der ISS seien abgenutzt. Ihre Instandhaltung würde bald genauso viel kosten wie der Bau einer separaten Station. Zahlen nannte der damalige Roskosmos-Direktor nicht.

Am Dienstag veröffentlichte Roskosmos Entwürfe der geplanten russischen Raumstation

Moskaus Wunsch nach einer eigenen Weltraumstation ist alt. Am Dienstag, fast zeitgleich mit Borissows Auftritt im Kreml, veröffentlichte Roskosmos Entwürfe für die russische Raumstation ROSS. Dazu stellte die Behörde ein Interview mit Wladimir Solowjow, dem Leiter des russischen Segments der ISS. "Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass die Ressourcen der ersten ISS-Module, die für 15 Jahre ausgelegt sind, um mehr als das Eineinhalbfache überschritten wurden", sagte er. Die Kosmonauten müssten immer mehr Zeit mit Reparaturen anstatt mit wissenschaftlichen Experimenten verbringen. Laut Solowjow könne Russland gleichzeitig Besatzungen auf die ISS und auf die neue Station ROSS schicken: "Natürlich müssen wir die ISS so lange betreiben, bis wir eine mehr oder weniger greifbare Vorarbeit für ROSS haben", sagte er.

Es gibt Experten in Russland, die an der Umsetzbarkeit zweifeln. "Im Allgemeinen dauert ein Projekt dieser Größe sieben Jahre, aber unsere Erfahrung zeigt, dass daraus 20 bis 30 Jahre werden", sagte etwa Iwan Moissejew, Leiter des nicht-staatlichen Instituts für Weltraumpolitik, dem Radiodienst NSN. "Daher entsteht ein möglicherweise unendlich langer Zeitraum, für den Russland die bemannte Weltraumforschung im Jahr 2024 verlässt."

In der Raumfahrtwelt bemüht man sich derweil um demonstrative Gelassenheit, schließlich möchte man noch bis 2024 mit Russland zusammenarbeiten. Erst kürzlich wurde eine Einigung zwischen Nasa und Roskosmos erzielt, was den Transport der Raumfahrer zur ISS angeht: Crew-Dragon-Kapseln der US-Firma Space-X und russische Sojus-Kapseln sollen abwechselnd fliegen und dabei im Tausch auch das Personal der jeweils anderen Seite mitnehmen. Aktuell sind die Verträge für den ISS-Betrieb für alle fünf Partner - Nasa, Roskosmos, die europäische Esa sowie die Raumfahrtagenturen von Kanada und Japan - bis 2024 gültig. Darüber hinaus gibt es noch keine verbindlichen Zusagen, auch wenn geplant ist, die Station bis 2030 zu erhalten, wie es die Nasa versprochen hat. Die Nachricht, dass Russland nach 2024 die ISS verlassen wolle, sei nicht neu, betont die Esa auf SZ-Anfrage. Die Esa selbst aber plane, ihr Columbus-Modul bis 2030 weiter zu betreiben.

Rein technisch ist es kein Problem, Russland von der Raumstation abzunabeln

"Die ISS war immer eine Partnerschaft, keiner will jetzt trotzig sagen: Dann geht doch", sagt Reinhold Ewald vom Institut für Raumfahrtsysteme der Universität Stuttgart. Aber rein technisch ist es kein unlösbares Problem, Russland von der Raumstation abzunabeln. Momentan besteht das "russische Orbitalsegment" der ISS aus sechs Modulen. Das wichtigste Forschungsmodul ist Nauka, ergänzt durch die kleineren Poisk und Rasswet. Das Modul Sarja wurde zwar von Russland gebaut, ist aber Eigentum der Nasa und damit formal ein US-Modul. Hinzu kommt das Docking-Modul Pritschal. Für den Betrieb der Station wichtig ist vor allem Swesda.

"Das russische Modul Swesda hat die Triebwerke für die nötigen Bahnkorrekturen", sagt Ewald. "Das könnte man aber auch mit einem an die Station angedockten Versorgungsraumschiff erledigen." Als die Nasa das im Juni mit dem Transport-Raumschiff Cygnus testete, gelang es zwar nicht auf Anhieb, aber schließlich konnte die ISS auf ihre normale Bahn angehoben werden, indem Cygnus aus seinen Triebwerken feuerte. Verloren gehen allerdings Redundanzen und Flexibilität, auf einer Raumstation immer wichtig - für die wenigen Jahre, die der ISS noch bleiben, werden kaum Ersatzmodule gebaut werden.

Trotzdem meint Ewald, dass der Verlust für Russland größer wäre als für die anderen Partner. Rogosin hatte angedeutet, dass Russland sein Modul womöglich separat von der ISS betreiben könne, etwa zur militärischen Erdbeobachtung. Aber ob das funktioniert? "Das Swesda-Modul ist alt und zeigt schon Lecks", sagt Ewald. "Ob man es so einfach abkoppeln und eigenständig betreiben kann, erscheint mir fraglich."

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