Süddeutsche Zeitung

Israel:Zu tiefer Einblick in die Privatsphäre

Der Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes mag nicht mehr bei der Corona-Überwachung mitmachen. Stattdessen empfiehlt er den Bürgern die Nutzung der App.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

Als sich das Coronavirus zu verbreiten begann, reagierte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu rasch: Per Notstandsverordnung legte er Mitte März die Überwachung der Bürger in die Hände des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Der Oberste Gerichtshof schritt ein, weil nicht einmal das Parlament eingebunden war. Daraufhin wurde ein Gesetz erlassen. Als nun die Verlängerung der umstrittenen Praxis über diesen Monat hinaus für mindestens 30 weitere Tag anstand, meldete sich Schin-Bet-Chef Nadav Argaman. Er bat die Regierung, von dieser Aufgabe entbunden zu werden. Seine Begründung: Der Schin Bet solle nicht in eine zivile Angelegenheit hineingezogen werden. Das Coronavirus sei weitgehend unter Kontrolle, nun sei der Einsatz der Technologie nicht länger nötig.

Die israelische Regierung hatte dem Schin Bet bei der Bekämpfung des Coronavirus den Einsatz von Technologien offiziell erlaubt, die normalerweise nur im Anti-Terrorkampf gegen palästinensische Extremisten eingesetzt werden. Die Rechtfertigung: Nur so könne man Leben retten. Jeder positive Coronatest löst beim Schin Bet eine Kette an Datenabfragen aus: Mit wem war der Patient in den vergangenen zwei Wochen in Kontakt und wie lange? Wo war die Person unterwegs? Personen, die Infizierten zu nahe kamen, bekamen automatisch eine SMS mit der Aufforderung, sich in Quarantäne zu begeben.

Datenschützer waren von Anfang an alarmiert über die Massenüberwachung

Neben GPS-Daten wurden 14 Sensoren der Smartphones ausgewertet, die etwa Bewegung, Beschleunigung oder die Lichtverhältnisse messen. Es wurden auch Auskünfte eingeholt, welches Wlan-Netz oder Gerät mit Bluetooth sich in der Nähe befunden hat. Das ermöglichte dem Geheimdienst tiefe Einblicke in die Privatsphäre von jedem, der sich in Israel aufhält - weit über Standortabfragen bei Smartphones hinaus.

Datenschützer waren von Anfang an alarmiert über die Massenüberwachung und den Abgleich von Daten: "Man kann richtig in die Inhalte hinein, in die sozialen Netzwerke desjenigen und in seine E-Mails", warnte Cybersecurity-Spezialist Isaac Ben-Israel im israelischen Armeeradio. Außerdem wurde die Kreditkartennutzung überwacht, um feststellen zu können, ob etwa Quarantänevorschriften verletzt wurden.

Die Massenüberwachung löste Debatten aus, ob der Geheimdienst die Daten nach seinem Einsatz bei der Coronabekämpfung löscht oder ob die in den vergangenen Monaten mit offizieller Duldung gewonnenen Erkenntnisse weiter benutzt werden. Für den Geheimdienstexperten Ronen Bergman, der als Journalist bei der Tageszeitung Yedioth Ahronot arbeitet, ist der Grund für den Rückzug des Schin Bet nicht die inzwischen geringe Zahl an Infizierten: "Es ist ein PR-Desaster", meint Bergman. Denn die Methoden des Geheimdienstes seien nun allen Israelis deutlich geworden: "Es ist der gleiche Mechanismus, der von Edward Snowden bei der NSA aufgedeckt worden ist." Die Enthüllungen Snowdens zeigten, wie die amerikanische National Security Agency (NSA) jede Form elektronischer Kommunikation überwachen kann.

Für Bergman hat die Einbindung des Inlandsgeheimdienstes bei der Coronabekämpfung "die Demokratie unterminiert". Warum es keinen größeren Aufschrei in Israel gegen diese Massenüberwachung gegeben habe? "Als Journalist und als Bürger muss ich sagen, es ist eine Schande, dass es nicht einmal eine breite öffentliche Debatte gegeben hat." Ehemalige Schin-Bet-Mitarbeiter wie Arik Barbing verteidigten das Programm jedoch öffentlich. Barbing verwies darauf, dass rund ein Drittel der damals 16 000 Infizierten vom Geheimdienst aufgespürt worden sei.

Der Chef des Geheimdienstes schlug den Israelis nun vor, als Alternative die vom Gesundheitsministerium entwickelte Handy-App zu nutzen, die einen Open-Source-Code verwendet. Für den Einsatz der App ist die Zustimmung des Nutzers erforderlich. Rund 1,6 der 6,5 Millionen Handynutzer haben die App "HaMagen" - hebräisch für "Das Schutzschild" - freiwillig heruntergeladen.

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SZ vom 16.06.2020
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