Süddeutsche Zeitung

Israel:Warten auf Tag X

Erstmals steht die Teilannexion des Westjordanlandes in einem Koalitionsvertrag Israels. Die EU weiß bisher nicht, wie sie reagieren soll.

Von Daniel Brössler und Alexandra Föderl-Schmid, Berlin

Der Tag X rückt näher. Bisher hatten europäische Diplomaten darauf verwiesen, dass genügend Zeit bleibe, sich auf eine gemeinsame Reaktion der EU-Staaten zu verständigen, sollten den mannigfachen Ankündigungen einer Annexion von Teilen des Westjordanlandes tatsächlich Taten folgen. Aber seit Sonntag ist in Israel eine neue Regierung im Amt, die erstmals die Umsetzung des Plans schriftlich fixiert hat.

In der Koalitionsvereinbarung, die Benjamin Netanjahu mit seinem Rivalen Benny Gantz geschlossen hat, steht sogar ein konkretes Datum: "Ab dem 1. Juli" könne Premier Netanjahu Schritte setzen zur "Ausweitung der Souveränität" - die in Israel gebräuchliche Bezeichnung für Annexion. Als Vorlage dient der im Januar von US-Präsident Donald Trump präsentierte Nahostplan. Ihm zufolge sollen das Jordantal und die Gebiete mit Siedlungen Israel zugeschlagen werden - etwa 30 Prozent des Westjordanlandes. Auf den verstreuten restlichen Flächen könnte ein Staat für die Palästinenser entstehen.

Bisher ist Netanjahu trotz vielfacher Ankündigungen vor einer De-jure-Annexion des besetzten Westjordanlandes zurückgeschreckt, obwohl in seiner Regierungszeit seit 2009 de facto Schritte getan wurden, die eine Zwei-Staaten-Lösung erschweren. Inzwischen leben im Westjordanland rund zwei Millionen Palästinenser und etwa 600 000 Israelis in 200 Siedlungen.

US-Außenminister Mike Pompeo hat beim Auftakt seines Besuchs vergangenen Mittwoch in Jerusalem auf "Fortschritte" bei der Umsetzung des Nahostplans gedrängt. Pompeo traf sich nicht nur mit Netanjahu, sondern auch mit Gantz und Gabi Aschkenasi. Die beiden Politiker von Blau-Weiß, die als Verteidigungs- und Außenminister Schlüsselpositionen bei der Umsetzung dieser Pläne haben, sollen ihre Vorbehalte gegen einseitige Schritte ohne Konsultationen mit den Palästinensern und anderen Staaten deutlich gemacht haben.

Jordanien hat gedroht, bei einer Annexion den Friedensvertrag zu kündigen - nach 25 Jahren

Zwei Tage nach Pompeos Rückkehr erklärte eine Sprecherin des US-Außenministeriums, dass die USA direkte Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern sowie anderen regionalen Akteuren wollen. Davor hatte Jordaniens König Abdullah mit einer Aussetzung des vor 25 Jahren geschlossenen Friedensvertrags mit Israel gedroht, sollte Netanjahu einseitige Schritte der Annexion unternehmen.

In ihren gespannt erwarteten öffentlichen Erklärungen zur Amtsübernahme in ihren Ressorts haben Gantz und Aschkenasi ihren Willen zur Umsetzung von Trumps Plan bekräftigt - aber nicht von Annexion gesprochen und die Wahrung strategischer Interessen sowie die Notwendigkeit zum Dialog betont. Gantz war bisher in vielem vage und hatte sich nur festgelegt, das Jordantal nicht aufzugeben.

In Berlin hat man sich diese Erklärungen der neuen Regierung so genau angehört, dass doch noch etwas Positives herausgefiltert werden konnte. Dass der neue Außenminister Aschkenasi auf den Wert der Friedensabkommen mit den arabischen Nachbarn verwiesen hat, wird als - wenn auch kleines - Zeichen dafür gewertet, dass internationale Reaktionen der Regierung in Jerusalem nicht völlig egal sind. Solange noch keine endgültige Entscheidung gefallen ist, soll das genutzt werden. Außenminister Heiko Maas (SPD) will möglichst noch diese Woche mit Aschkenasi telefonieren und würde wohl auch - so es die Corona-Lage zulässt - gerne bald in die Region reisen. Vorläufig geht es der Bundesregierung im Einklang mit den meisten anderen Europäern darum, Israel doch noch von konkretem Vorgehen abzubringen. Man fordere Israel "mit Nachdruck auf, von jeder einseitigen Entscheidung abzusehen, die zu einer Annexion von besetzten palästinensischen Gebieten führen würde und die völkerrechtswidrig wäre", hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montagabend verkündet.

Einheitlich ist die Haltung innerhalb der EU jedoch nicht. Während Skandinavier und Franzosen auf eine Drohung mit Sanktion drängen, wenden sich etwa Ungarn und Österreicher schon gegen allzu pointierte Kritik an der neuen Regierung. Deutschland sieht sich in diesem Konflikt, wie schon in der Vergangenheit, als Mittler. Vergleiche, wie sie Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn zur Annexion der Krim durch Russland gezogen hat, macht sich Maas ausdrücklich nicht zu eigen.

Auch die Bundesregierung hält eine Annexion für völkerrechtswidrig. Keine Illusionen macht man sich in Berlin auch, was die Wirksamkeit von Appellen angeht. Allerdings sollen die Israelis an wirtschaftliche Chancen erinnert werden, die ihnen entgehen, wenn sie die EU verprellen.

"Aus unserer Sicht können Grenzen nur als Ergebnis von Verhandlungen und im Einvernehmen beider Seiten verändert werden. Wir setzen uns daher für die Wiederaufnahme direkter Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern ein und sind bereit, diesen Weg, gemeinsam mit unseren Partnern, zu unterstützen", erklärte Maas am Dienstag nach einer Videoschalte mit dem palästinensischen Regierungschef Mohammed Staje. In der Pflicht sieht man in Berlin nicht nur die Israelis, sondern auch die Palästinenser. Sie müssten eigene Initiativen vorlegen.

Die Führung der Palästinenser hat die Zeit seit der Präsentation von Trumps Plan im Januar nicht genutzt, um ein Alternativkonzept zu erarbeiten. Schon in den vergangenen Tagen häuften sich Zusammenstöße im Westjordanland zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten, es gab Tote. Diese Spannung könnte sich am Tag X weiter steigern.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4912858
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.05.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.