Mehr als 6,4 Millionen Israelis stimmen an diesem Dienstag über die Zusammensetzung des Parlaments ab - und letztlich darüber, ob Premierminister Benjamin Netanjahu eine fünfte Amtszeit anstreben kann. Die Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Netanjahus rechtsnationaler Likud-Partei und dem blau-weißen Oppositionsbündnis von Benny Gantz voraus.
Obwohl es die zweite Parlamentswahl binnen fünf Monaten ist, lag die Wahlbeteiligung nach Angaben des zentralen Wahlkomitees um 20 Uhr bei 63,7 Prozent - und damit 2,4 Prozent höher als im April. Insgesamt 68 Prozent gingen damals zur Wahl. Präsident Reuven Rivlin rief die Israelis am Dienstag auf, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.
Bei der Stimmabgabe warben die Kandidaten noch einmal für sich und ihre Partei. Gantz versprach "Hoffnung zu bringen ohne Korruption und Extremismus". Netanjahu drohen nach einer letzten Anhörung am 2. Oktober Anklagen in drei Korruptionsfällen. Netanjahu fragte warnend, wer außer ihm den von Präsident Donald Trump angekündigten Verteidigungspakt der USA mit Israel verhandeln soll. Noch am Vortag hatte Netanjahu eine Annexion der jüdischen Enklave in der von 202 000 Palästinensern bewohnten Stadt Hebron versprochen. Bundeskanzlerin Angela Merkel reagierte auf die Annexionsankündigungen am Dienstag nach einem Besuch des jordanischen Königs Abdullah II.: "Deutschland steht eindeutig zur Zweistaatenlösung."
Wahl in Israel:Getrennt gegen Netanjahu
Der rechtskonservative Premier hat es bei der Knesset-Wahl mit starken Herausforderern zu tun. Sie alle wollen Netanjahu aus dem Amt jagen - dafür würde mancher sogar Bedenken über Bord werfen.
Nach Einschätzung des Politologen Jonathan Freeman von der Hebrew University in Jerusalem ist die Wahlbeteiligung entscheidend: "Eine niedrige Beteiligung würde die Macht der größeren Parteien verringern. Damit hätten die kleineren Parteien mehr Einfluss. Das erhöht dann auch die Herausforderungen für eine Regierungsbildung."
Im April hatte die Parteien des rechten Blocks zwar mehr als die für eine Mehrheit erforderlichen 61 der 120 Sitze in der Knesset erobert. Netanjahu hatte versucht, neben dem Likud fünf weitere Parteien in einer Koalition zu vereinen. Aber der ehemalige Verteidigungsminister Avigdor Lieberman hatte ihm mit seiner nationalistischen Partei Unser Haus Israel die Gefolgschaft verweigert. Um zu verhindern, dass Gantz den Regierungsbildungsauftrag bekommt, setzte Netanjahu Neuwahlen durch. Das blau-weiße Bündnis hatte wie der Likud 26 Prozent und 35 Sitze gewonnen, Netanjahus Partei lag aber knapp vorne.
Viel hängt nach Einschätzung des Politologen Freeman auch davon ab, wie viele arabische Israelis zur Wahl gehen. Denn ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt rund zwanzig Prozent. "In der ersten Runde waren wenige arabische Israelis an den Urnen. Aus welchen Gründen immer: Weil die arabischen Parteien nicht geeint antraten. Oder wegen der Gesetzgebung, die ihnen das Gefühl gab, nicht erwünscht zu sein. Jetzt ist es so, dass man wieder eine gemeinsame Liste hat. Aber auch andere Parteien haben die arabischen Wähler diesmal gezielt angesprochen", sagt Freeman.
Im April lag die Beteiligung der arabischen Wähler unter 50 Prozent. Viele waren zu Hause geblieben, als bekannt wurde, dass Likud-Anhänger mit 1200 Kameras in Wahllokalen in Gebieten mit einem hohen arabischen Bevölkerungsanteil präsent waren. Der Likud scheiterte vor der Wahl in der Knesset mit dem Versuch, Kameras in Wahllokalen zu installieren. Aber das Wahlkomitee rüstete diesmal 3000 offizielle Beobachter mit Kameras aus.
Außerdem sind mit 20 000 Polizisten so viele wie noch an einem Wahltag im Einsatz. Die Polizei nahm bis zum Abend zwanzig Menschen in Zusammenhang mit Wahlbetrug oder Verletzung des Wahlgesetzes fest. Außerdem wurden 69 Verfahren eingeleitet. Landesweit gibt es mehr als 10 700 Wahllokale. Vereinzelt gab es am Dienstag Protest, weil sich Parteienvertreter als offizielle Wahlbeobachter ausgaben.
Drei Stunden vor Schließung der Wahllokale gab es außerdem einen Cyberangriff auf die Website der größten Oppositionspartei Blau-Weiß, die nicht mehr erreichbar war.
Facebook sperrte am Dienstag Netanjahus Facebook-Chatbot, nachdem Umfragen publiziert worden waren. Das ist am Wahltag nicht mehr erlaubt. Netanjahu kritisierte Facebook für diese Entscheidung.
Die Wahllokale schließen um 21 Uhr deutscher Zeit, kurz darauf werden Prognosen veröffentlicht. Erst am Mittwochmorgen werden Ergebnisse erwartet. Präsident Rivlin versprach am Dienstag den Israelis, dass es nicht noch eine dritte Wahl binnen kurzer Zeit geben werde. Er werde nach Konsultationen mit Parteienvertretern jenen Politiker mit der Bildung einer Koalition beauftragen, der seiner Ansicht nach die besten Chancen hat, eine Regierung zu bilden.
In dieser Situation kommt der gemeinsamen Liste der arabischen Parteien, die Umfragen zufolge voraussichtlich auf Platz drei landet, nach Einschätzung des Politologen Freeman eine wichtige Rolle zu. Deren Spitzenkandidat Ayman Odeh hat als zentrale Parole ausgegeben, dass eine weitere Amtszeit Netanjahus verhindert werden müsse. "Das könnte Gantz eine bessere Chance geben, ein Mandat zur Regierungsbildung zu bekommen", meint Freeman.
Königsmacher Lieberman
Die Rolle des Königsmachers dürfte jedoch erneut Avigdor Lieberman zukommen. Er hat sich für eine Einheitsregierung aus Likud und Blau-Weiß unter Einschluss seiner Partei ausgesprochen. Auch Freeman rechnet damit, dass am Ende eine große Koalition herauskommt. "Benny Gantz will das, auch viele in der Likud-Partei. Netanjahu will ebenfalls so eine Regierung: Tief drinnen in ihrem Herzen wollen sie das, auch wenn sie es nicht sagen."
Nach Freemans Einschätzung ist eine solche Koalition positiv aus zwei Gründen: Erstens brauche man nach der angekündigten Präsentation des Nahost-Friedensplans durch Trump eine breite Koalition, damit die Umsetzung gelinge und die Bevölkerung leichter überzeugt werden könne. Außerdem sei eine Wahlrechtsreform nötig, damit die Schwelle von 3,5 Prozent für den Eintritt in die Knesset erhöht und die Anzahl der Parteien reduziert werde. Im April traten 46, diesmal 30 zur Wahl an. "Eine Einheitsregierung und eine Wahlrechtsreform würde dem Land mehr Stabilität verleihen."