Israel vor der Wahl:Vermisst du Stalin?

Früher war es einfach - es gab die Linke und die Rechte. Heute hingegen herrscht Chaos. Es gibt eine Mitte, und die ist absolut überfüllt. Von den Qualen eines israelischen Wählers.

Assaf Gavron

Dieses letzte Wochenende vor den Wahlen in Israel war nervenaufreibend für Wechselwähler, also für uns unentschlossene Individuen, die diesmal offenbar 25 Prozent der wählenden Bevölkerung ausmachen und die immer noch darüber grübeln, welcher Partei sie ihre Stimme geben sollen.

Israel vor der Wahl: Ein ultraorthodoxer Jude geht an Wahlplakaten vorüber. "Wäre das Gesamtbild klarer", schreibt Assaf Gavron, "wüssten wir, dass wir eh nichts ändern".

Ein ultraorthodoxer Jude geht an Wahlplakaten vorüber. "Wäre das Gesamtbild klarer", schreibt Assaf Gavron, "wüssten wir, dass wir eh nichts ändern".

(Foto: Foto: Reuters)

Es war deshalb so ein schwieriges Wochenende für uns, weil alle Meinungsumfragen behaupteten, dass das Rennen sehr eng sei, so eng wie nie zuvor während des Wahlkampfes, und der Abstand zwischen Likud und Kadima, den beiden größten Parteien, sehr klein.

Wäre das Gesamtbild klarer, wüssten wir, dass wir eh nichts ändern, und bräuchten uns nur zu entscheiden, ob wir uns jubelnd den Gewinnern anschließen oder ob wir den Verlierern zum Trost unsere Stimme schenken. Doch nun, wo unsere Stimmen ausschlaggebend sind, könnte unser kleines Kreuzchen alles entscheiden - das Schicksal des Landes liegt auf unseren Schultern! So viel zum Thema Psychodruck...

Rentner, Russen, Religiöse

Als ich noch jünger war, war es einfacher - damals gab es die Linke und die Rechte. Die Linke war für Frieden und Verständigung, die Rechte für mehr Siedlungen und für toughe Worte. Es gab die große Linkspartei Labour und die große Rechtspartei Likud.

Neben Labour gab es noch eine richtig linke Partei, neben Likud eine rechte. Noch weiter links und rechts standen die Extremisten, und dann waren da noch die religiösen Parteien, die meist mit Labour oder Likud eine Koalition bildeten, und da eigentlich immer eine Pattsituation zwischen den beiden Lagern herrschte, ließen sie sich diese Gefolgschaft teuer bezahlen.

Heute hingegen ist es ein Chaos. Es gibt eine Mitte, und die ist absolut überfüllt. Kadima, die vor den letzten Wahlen als Mitte-Partei gegründet wurde, ist nun die größte. Als Reaktion darauf hat Labour ihre Linksposition verlassen und bewegt sich auf die Mitte zu, und Netanjahu versucht Likud als so moderat und frei von Rechtsextremisten wie möglich zu präsentieren. Und dann sind da - neben den Religiösen - noch all die Parteien für bestimmte Bevölkerungsgruppen: Die Rentnerpartei konnte das letzte Mal einen großen Erfolg erzielen, die Anti-Religiösen zwei Wahlen zuvor.

Die Russen sind eine enorme Kraft, es gibt die Grünen, und auch die religiösen Parteien haben sich entwickelt und verändert und ziehen nun auch andere Gesellschaftsbereiche an. Zwischen all dem treibe ich dahin, versuche meine Identität und meinen echten Abgeordneten in diesem großen Haus in Jerusalem zu finden.

Also, was für Möglichkeiten habe ich? Netanjahu hatten wir schon, der hat versagt. In seinem Wahlkampf erzählt er mir, dass er "stark" ist - ist das etwas Gutes? Er ist gegen Verhandlungen und Kompromisse, und auf seiner Liste stehen rassistische Extremisten.

Am Ende bekommt man bei ihm immer dieses glitschige Gefühl, dass er nur um seiner selbst willen hier ist, dass er noch den dreckigsten populistischen Trick anwenden würde, um an die Macht zu kommen. Barak und Labour haben wir auch ausprobiert, die haben uns ebenfalls enttäuscht. Barak erklärt uns in seiner Kampagne, dass er viel militärische Erfahrung habe und dass er für den jüngsten "Erfolg" in Gaza verantwortlich sei - ist das gut? Nein, danke.

Tzipi Livni von Kadima - nun, sie ist unter den möglichen Kandidaten definitiv die beste Option für den Posten der Premierministerin . Likuds erschreckende Kampagne - "Sie ist schwach in Sicherheitsfragen!" - bringt mich sogar dazu, sie mehr zu unterstützen. Es wäre ja an der Zeit, dass endlich jemand das Land führt, der in Sicherheitsfragen schwach ist. Leider tummeln sich auf ihrer Liste lauter unmögliche Typen.

Ansonsten wäre da Avigdor Lieberman, der Mann der Stunde ("Vermisst du Stalin? Du wirst Lieberman lieben!" sagt eine Kampagne), der gekonnt die Welle des Nationalismus und Rassismus abritt, die während des Gazakriegs das Land überschwemmte und der seither obenauf schwimmt wie Öl auf Wasser. Und dann gibt es noch die bizarre Partei, die damit wirbt, für Alt und Jung, für Cannabisraucher wie für Holocaust-Überlebende zu sein.

Es gibt zwei Szenarien, wer die kommende Koalition stellt. Das erste ist eine rechtsgerichtete Regierung aus Likud, Lieberman und den Religiösen - ein katastrophales Szenario für jemanden, der, anders als Kilgore in "Apocalypse Now", "den Geruch von Napalm am frühen Morgen" nicht liebt. Ich kann mir überhaupt nur eine mögliche positive Folge einer solchen Regierung vorstellen. Sie wäre wohl so schlecht, dass Obama irgendwann wütend seine Macht dazu nutzen würde, Israel in eine bessere Richtung zu zwingen (was Bush sich nie traute).

Vermisst du Stalin?

Die zweite Option, auf die ich eventuell Geld setzen würde, wenn ich denn welches hätte: Netanjahu bildet eine gemäßigte Regierung mit Kadima, Labour und den religiösen Jungs (die für den richtigen Preis mit jedem gehen, wie wir bereits bemerkt haben). Diese Regierung würde in der Mitte feststecken: Sie würde zwar den Eindruck vermitteln, dass sie sich vorwärts bewegen will, in Richtung Frieden, wäre aber nicht dazu in der Lage, auch nur einen Schritt in diese Richtung zu tun. So oder so wird es keinen großen Durchbruch geben bezüglich des einen großen Lebensthemas Israels: Frieden mit den Palästinensern.

Was bleibt also übrig für einen liberalen, friedensbejahenden Leftie wie mich? Eine Option war immer die Partei Meretz: Gute Leute, relevante Themen wie Umweltschutz, Kampf gegen religiöse Zwänge, Friedensarbeit und so weiter. Dennoch habe ich dieses Mal meine Probleme mit ihr. Erstens sind ihre Leitfiguren nicht mehr so beeindruckend wie früher. Zweitens waren sie sehr wankelmütig während des Gaza-Krieges. Zuerst haben sie ihn unterstützt, dann kritisiert, schließlich nicht mehr kritisiert. Dieses Hin und Her hat viele enttäuscht. Außerdem hasse ich ihre aktuelle Parole "Keine Kompromisse!" Keine Kompromisse? Was soll das? Selbstverständlich brauchen wir Kompromisse! Keine Kompromisse, das haben die Rechten und die Mitte doch schon vorgemacht, und schaut, wo es uns hingebracht hat.

Die andere Möglichkeit ist die Hadash, eine jüdisch-arabische und sozialistische Partei. Die sind immerhin beständig, haben das "kommunistische" Label zur rechten Zeit über Bord geworfen, unterstützen jüdisch-arabische Kooperationen, haben sich klar gegen den Krieg geäußert und unterstützen seit Jahren umweltpolitische Maßnahmen. Und trotzdem fühle ich mich unbehaglich mit ihnen - inwieweit sind sie Zionisten? Wie liberal sind sie wirklich? Wie ausgeglichen? Die ersten fünf Listenplätze belegen vier Araber und ein Jude.

Hier stehe ich also, so kurz vor den Wahlen, und merke, dass ich mit keiner der Möglichkeiten zufrieden bin. Bin ich ein alter Nörgler geworden? Oder werden unsere Politiker tatsächlich schlechter? Ich hoffe, eine Antwort zu haben, wenn ich heute in der Wahlkabine stehe.

Der Autor lebt als Schriftsteller und Sänger in Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch der Roman "Ein schönes Attentat" (Luchterhand 2008). Deutsch von Angela Ullmann

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: