Süddeutsche Zeitung

Israel:Volk gegen Armee

Ein israelischer Soldat tötet einen Palästinenser per Kopfschuss. Weil der Verteidigungsminister die Tat verurteilt, wird er für viele zum Feind. Das wiederum bringt Premier Netanjahu dazu, seine Meinung in dem Fall zu ändern.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Die Fotos zeigen ihn im Fadenkreuz: Israels Verteidigungsminister Mosche Jaalon, der oft genug als Held gefeiert wurde von den Siedlern und den Rechten, ist da zu sehen als Ziel eines Scharfschützen, und im darunter stehenden Text wird er freigegeben zur "politischen Eliminierung". Verschickt wurden die Bilder über die Whatsapp-Gruppe seiner eigenen Likud-Partei - und sie markieren den vorläufigen Tiefpunkt in einer Debatte, die das Land tief in zwei Lager spaltet und viele an die aufgepeitschten Zeiten rund um den Mord am friedensbewegten Premierminister Jitzchak Rabin erinnert.

Israel kommt nicht mehr zur Ruhe seit einem blutigen Vorfall in Hebron vor gut zwei Wochen: Zwei palästinensische Attentäter hatten, wie es fast schon zur traurigen Routine gehört in den vergangenen Monaten, einen Soldaten mit dem Messer attackiert und verletzt. Einer der Angreifer wurde sofort erschossen, der zweite lag verletzt am Boden - und wurde einige Minuten später von einem Soldaten aus nächster Nähe per Kopfschuss getötet. Die zutiefst verstörende Aktion war von einem Mitarbeiter der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem gefilmt worden, die von einer "Hinrichtung" sprach. Das Video verbreitet sich rasend schnell übers Internet und zwang Israels militärische und politische Führung zu einer schnellen Reaktion: Der 19-jährige Soldat wurde noch am Tatort festgenommen und in Handschellen abgeführt. Armeechef Gadi Eizenkot und Verteidigungsminister Jaalon verurteilten die Tat als schwerwiegenden Verstoß gegen die moralischen Werte der Streitkräfte.

Das sollte wohl genügen, um eine Brandmauer hochzuziehen gegen all die Kritik aus dem Ausland und von israelischen Menschenrechtsgruppen, die über mögliche "außergerichtliche Tötungen" geklagt hatten. Schließlich sind in den vergangenen sechs Monaten der Gewalt neben 28 Israelis und vier Ausländern mehr al 200 Palästinenser getötet worden, die meisten nach eigenen Angriffen.

Der Premierminister spricht dem Vater des Schützen Mut zu

Die öffentliche Diskussion in Israel entwickelte sich jedoch komplett in die andere Richtung: Unter Druck gerieten plötzlich all jene, die den Kopfschuss des Soldaten verurteilten. Aus dem Kabinett heraus wetterte Erziehungsminister Naftali Bennett von der rechten Siedlerpartei "Jüdisches Heim" gegen jene in der Führung, die "nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden" könnten. "Was ist die Botschaft für Tausende Soldaten, wenn sie ihren Kameraden gefesselt sehen?", fragte er und befeuerte damit die Dolchstoß-Stimmung. Der frühere Außenminister Avigdor Lieberman erschien sogleich auf einer der zahlreichen Solidaritätsdemonstrationen für den Soldaten.

Seitdem steht die Armee, die eigentlich sonst überparteilich als gemeinsamer Nenner in Israels chronisch zerstrittener Gesellschaft gilt, im Zentrum einer politischen Schlacht. Paradoxerweise erscheinen dabei vielen ausgerechnet die verantwortungsvoll agierende militärische Führung und der Verteidigungsminister als Verräter. Die Familie des Soldaten klagt: "Ihr schickt einen Jungen los, um Israel zu verteidigen und solltet ihn verteidigen, wenn etwas passiert." In Meinungsumfragen bekennt eine 56-Prozent-Mehrheit der Bevölkerung, dass sie einen Prozess gegen den Todesschützen für falsch hält. 42 Prozent finden, er habe "verantwortungsvoll" gehandelt. Premierminister Benjamin Netanjahu, der stets seine Nase im Wind hält, rückte schnell ab von seiner anfänglichen Verurteilung des Vorfalls. Vorige Woche rief er den Vater des Schützen an, um ihm Mut zuzusprechen. "Als Vater eines Soldaten verstehe ich deine Not", sagte er, und ließ das sogleich per Pressemitteilung auch das Wahlvolk wissen.

Der Soldat, der zunächst in einem Militärgefängnis saß, ist inzwischen in den "offenen Arrest" auf seinem Armeestützpunkt überführt worden. Eine Mordanklage kommt wohl kaum noch infrage, erwogen wird nun eine Anklage wegen Totschlags, womöglich aber auch nur wegen "Überschreitung der Befugnisse". Der Soldat selbst gibt an, aus Angst davor geschossen zu haben, dass der bereits mehrere Minuten reglos am Boden liegende Palästinenser einen Sprengstoffgürtel zünden könnte. Dagegen jedoch spricht nicht nur die Videoaufnahme, die auf keineswegs panisches, sondern kaltblütiges Vorgehen hindeutet. Konterkariert wird dies auch durch Zeugenaussagen anderer Soldaten und ein aufgeschnapptes Zitat des Schützen, der vor dem Schuss gesagt haben soll, "der Terrorist verdient es zu sterben". Überdies belasten ihn Fotos, die ihn unmittelbar nach der Tat beim Handschlag mit dem berüchtigten rechtsradikalen Siedlerführer Baruch Marzel zeigen.

Verteidigungsminister Jaalon hat angesichts all dieser Umstände in der Knesset noch einmal betont, dass dieser Soldat "kein Held" sei, sondern eine "abscheuliche Tat" verübt habe. Für viele wird Jaalon damit zum Feind.

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SZ vom 09.04.2016
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