Israel:Ultra-Orthodoxe in Aufruhr

Politische Partnerpflege oder rigide Pandemie-Bekämpfung: Die Proteste Strenggläubiger gegen den Lockdown treiben die israelische Regierung von Benjamin Netanjahu in eine Zwickmühle.

Von Peter Münch, Tel Aviv

In Jerusalem brennen die Barrikaden, genau genommen sind es Müllcontainer, und der Aufruhr tobt nun schon seit drei Nächten. Es fliegen Eier und Steine, es herrscht ein großes Geschiebe und Gedränge, und wo die Demonstranten und die Polizisten aufeinandertreffen, wird kräftig ausgeteilt. Zu sehen ist das auf Videos aus den Wohnvierteln der Ultra-Orthodoxen, die mit aller Macht ihrem Ärger Luft machen über einen von der Regierung verhängten Lockdown über einzelne Stadtteile. Die frommen Männer empfinden diese Maßnahme zur Eindämmung der Corona-Ausbreitung als gezielte Schikane, und neben den Krawallen hat das nun auch zu einem ernsten Krach in der Regierung geführt.

Die beiden in der Koalition vertretenen religiösen Parteien Schas und Vereinigtes Torah-Judentum klagen lautstark über Diskriminierung und Polizeigewalt. Premierminister Benjamin Netanjahu steckt damit in der Zwickmühle zwischen politischer Partnerpflege und Pandemie-Bekämpfung.

Die Zahl der Infektionen ist in den religiösen Wohngegenden besonders hoch

Seit vorigem Freitag gelten die einwöchigen Beschränkungen für einzelne Bezirke in fünf verschiedenen Städten. Damit versucht die Regierung, Infektionsherde gezielt einzudämmen. In Jerusalem und andernorts sind davon besonders die Wohnviertel der streng Religiösen betroffen, die insgesamt rund zwölf Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen. Zur Sperrzone war zudem gegen den heftigen Protest des Bürgermeisters die ultra-orthodoxe Siedlung Beitar Illit erklärt worden.

Schon zu Beginn der Pandemie waren besonders viele Infektionsfälle in den religiösen Wohngegenden verzeichnet worden. Als Grund werden die meist sehr beengten Wohnverhältnisse der oft kinderreichen Familien angegeben. Auch in den Synagogen und den Jeschiwas, in denen die ultra-orthodoxen Männer ganztags ihre Torahstudien betreiben, herrscht häufig drangvolle Enge. Zudem ist das Verständnis für einschränkende Regierungsmaßnahmen in dieser Bevölkerungsgruppe wenig ausgeprägt. Als Beispiel dafür darf der zu Beginn der Pandemie noch amtierende Gesundheitsminister Jaakov Litzman vom Vereinigten Torah-Judentum gelten, der bei der Virusbekämpfung vorrangig aufs Beten setzte und sich im April beim damals bereits von seinem Ministerium verbotenen Synagogenbesuch mit dem Coronavirus angesteckt hatte. Mit ihm ging die halbe Staatsspitze in Quarantäne.

In der seit Mai amtierenden neuen Regierung sitzt Litzman als Wohnungsbauminister. Folglich saß er auch mit am Tisch, als Netanjahu zu Wochenbeginn die Vertreter seiner ultra-orthodoxen Regierungspartner zum Krisengespräch über die Corona-Maßnahmen lud. Erneut klagten sie dort über Ungleichbehandlung. Auch die Drohung mit einem Ausstieg aus der Koalition soll im Raum gestanden haben. Netanjahu zeigt sich ob dieses Drucks eher kleinlaut. Die "Notlage" der Religiösen liege ihm sehr am Herzen, versicherte er. Künftig, so hieß es hinterher, soll ein geplanter Lockdown in Vierteln der Frommen zuvor mit deren politischen Vertretern besprochen werden.

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