Es sind Szenen, die in einer Demokratie eigentlich nicht stattfinden dürfen: Am Montag stürmten im Süden Israels aufgebrachte Demonstranten zusammen mit rechtsextremen Abgeordneten die Militärbasis Sde Teiman, um gegen die Verhaftung von neun Soldaten durch die Militärpolizei zu protestieren. Den neun Reservisten wird vorgeworfen, einen Terroristen der islamistischen Hamas so schwer sexuell misshandelt zu haben, dass er in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Der Terrorist habe nicht laufen können, berichtete die Zeitung Haaretz.
Die neun Soldaten weisen die Vorwürfe zurück. Nachdem sie am Montagabend auf dem Stützpunkt Beit Lid angekommen waren, wo am Dienstag eine Anhörung stattfand, drangen Demonstranten ebenfalls auf das Gelände dieser Einrichtung der israelischen Streitkräfte ein. In Videos, die sofort in den sozialen Netzwerken kursierten, sind Ausschreitungen und Handgreiflichkeiten zwischen wütenden Zivilisten und Soldaten zu sehen.
Agenturberichten zufolge sollen einige Eindringlinge Armeeuniformen getragen haben und bewaffnet gewesen sein. Aus der Ferne nannte der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir die Verhaftung der neun Soldaten „nichts weniger als eine Schande“. Direkt vor dem Militärstützpunkt nannte Limor Son Har-Melech, eine Abgeordnete von Ben-Gvirs rechtsextremer Partei Jüdische Kraft, die zuständige Militärstaatsanwältin Yifat Tomer-Yerushalmi eine „Verbrecherin“ und klagte, Israel müsse sich „von außen und von innen“ gegen Feinde wehren. Für Generalstabschef Herzi Halevi, der nach Beit Lid geeilt war, grenzen die Aktionen an „Anarchie“ und schaden den Kriegsanstrengungen.
Der Verteidigungsminister fordert „harte Hand“ gegen Kabinettskollegen
In einem Brief an Premier Benjamin Netanjahu, aus dem die Times of Israel zitiert, nannte Verteidigungsminister Joav Gallant die Vorfälle eine „schwere Gefährdung der Staatssicherheit“. Was Gallant, der wie Netanjahu der Likud-Partei angehört, weiter forderte, zeigt die Brisanz der Ereignisse für die rechtsreligiöse Regierung, über deren Zerfall seit Wochen spekuliert wird: Der Premier müsse „mit harter Hand gegen Koalitionsmitglieder vorgehen, die an den Unruhen beteiligt waren“. Er müsse untersuchen, ob Sicherheitsminister Ben-Gvir die ihm unterstehenden Polizeikräfte gezielt daran gehindert habe, gegen die Gewalttäter aus dem eigenen Lager vorzugehen.
Der so Angegriffene wies die Anschuldigungen sofort zurück und griff seinerseits Gallant in einem Brief an. Netanjahu solle überprüfen, ob der Verteidigungsminister vor dem 7. Oktober, als die Hamas bei ihrem Überfall fast 1100 Israelis und 71 Ausländer ermordete, entsprechende Warnungen ignoriert habe. Ben-Gvir warf Gallant vor, die Regierung stürzen zu wollen.
Die beiden Minister vertreten auch völlig gegensätzliche Positionen zu einem Abkommen mit der Hamas über die Freilassung der israelischen Geiseln und eine Waffenruhe. Während Gallant dieses seit Wochen fordert, damit sich die Armee auf den Konflikt mit der Hisbollah konzentrieren kann, droht Ben-Gvir in diesem Fall mit dem Bruch der Koalition. Premier Netanjahu versuchte am Dienstag in der Kabinettssitzung, den Streit einzudämmen.
Eine „faschistische Gruppe“ gefährde Israel, klagt die Opposition
Und die Opposition? Die sieht alle roten Linien überschritten. „Wir stehen nicht am Rande des Abgrunds, wir befinden uns im Abgrund“, schrieb Oppositionsführer Jair Lapid auf X. Eine „gefährliche faschistische Gruppe“ gefährde die Existenz Israels.
Wegen der Zustände in Sde Teiman wird die Regierung seit Längerem kritisiert, und zwar nicht nur von Menschenrechtsorganisationen. Am Dienstag schrieb Steffen Seibert, der deutsche Botschafter in Tel Aviv, auf X, dass Außenministerin Annalena Baerbock in einer Rede „die Vorwürfe der Misshandlung von Gefangenen aus Gaza, nicht nur im Lager Sde Teiman“ angesprochen hatte. Sie seien ebenso „verstörend“ wie die Berichte, dass im Westjordanland extremistische Siedler Palästinenser aus ihren Häusern vertreiben würden. Sicherheitsminister Ben-Gvir gilt übrigens als „Superstar der Siedler“.
Im Mai hatte der US-Sender CNN unter Berufung auf drei Whistleblower berichtet, dass im Lager Sde Teiman Wunden nur unzureichend versorgt würden und Ärzte mitunter Gliedmaßen amputieren müssten, weil den Gefangenen zu lange Handschellen trügen. Die Häftlinge, unter den sich auch Mitglieder der berüchtigten Nukhba-Einheit der Hamas befinden, erhalten demnach auch kaum Platz und Privatsphäre, zudem werden ihnen oft die Augen verbunden.
Eine Recherche der New York Times erhebt ähnliche Anschuldigungen. Auf Anfrage hatte die israelische Armee „Behauptungen über systematische Misshandlungen von Gefangenen“ zurückgewiesen. Längst haben israelische Menschenrechtsorganisationen eine Petition zur Schließung des Lagers Sde Teiman eingereicht. Am Dienstag verschob das Oberste Gericht die geplante zweite Anhörung auf den 7. August.