Nahost:Israel steht vor einer Staatskrise

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Bereits seit einer Woche gehen Tausende Israelis auf die Straße, um gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu zu protestieren. (Foto: Ronen Zvulun/REUTERS)

Israels oberstes Gericht hat Regierungschef Benjamin Netanjahu vorerst untersagt, den Inlandsgeheimdienstchef zu entlassen. Netanjahu deutet an, sich über das Gericht hinwegsetzen zu wollen. Im ganzen Land formiert sich Protest.

Von Kristiana Ludwig, Tel Aviv

Das Oberste Gericht in Israel hat die Entlassung des Geheimdienstchefs, Ronen Bar, durch den Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gestoppt. Damit steuert das Land auf einen Höhepunkt seiner Demokratiekrise zu. Bereits seit einer Woche gehen Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Entlassung von Bar zu protestieren. Denn sie sehen darin den Versuch Netanjahus, die laufenden Ermittlungen des Inlandsgeheimdienstes gegen seine engsten Mitarbeiter zu sabotieren.

Auch Israels Generalstaatsanwältin, Gali Bahav-Mira, warnte, dass Bars Kündigung nicht rechtens sei. Netanjahu will Berichten zufolge nun auch sie feuern: Sein Kabinett habe einen Misstrauensantrag gegen Bahav-Mira auf die Tagesordnung für Sonntagvormittag gesetzt.

Nach der einstweiligen Verfügungen des Obersten Gerichts gegen den Beschluss der Regierung zum Geheimdienstchef Bar gab Netanjahu am Freitag auf der Plattform X bekannt, dass „dem Gesetz zufolge die israelische Regierung entscheidet, wer den Geheimdienst leitet“. Sein eben erst ins Kabinett zurück gekehrter rechtsextremer Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, wurde deutlicher. Er schrieb: „Justizreform jetzt!“

Die umstrittene Idee einer Justizreform ist mit voller Wucht zurück

Damit deuten Netanjahu und sein Minister an, die Entscheidung des Obersten Gerichts nicht zu akzeptieren und stattdessen die Justiz in ihrer Handlungsfähigkeit beschneiden zu wollen. Bereits vor zwei Jahren, noch vor dem Angriff vom 7. Oktober 2023 auf das Land und dem Beginn des Krieges in Gaza, hatte die Regierung eine umstrittene Veränderung des Justizsystems angestrebt. Sie sollte der Politik die Möglichkeit geben, sich über Entscheidungen des Obersten Gerichts hinwegzusetzen. Die Pläne lösten monatelange Massenproteste aus und wurden damals auf Eis gelegt.

Jetzt aber kehrt die Idee mit voller Wucht zurück. Israel, ein Land ohne Verfassung, steht damit vor einer ernst zu nehmenden Krise der Gewaltenteilung. Der frühere Präsident des Obersten Gerichtshofs, Aharon Barak, warnte vor einem „Bürgerkrieg“. Netanjahu schrieb darauf: „Es wird keinen Bürgerkrieg geben!“

In der vergangenen Woche hatten sich die Ereignisse in Israel überschlagen. Nachdem Netanjahu am Sonntagabend die Entlassung Bars angekündigt hatte, war am Montag zu Demonstrationen aufgerufen worden. In der Nacht darauf beendete Netanjahu die Waffenruhe in Gaza mit großflächigen Luftschlägen, nach palästinensischen Angaben kamen Hunderte Menschen ums Leben. Auch in Israel heulen seitdem Sirenen, wegen neuem Raketenbeschuss aus Jemen und aus Gaza. Am Dienstag kehrte Minister Ben-Gvir in die Regierung zurück und verschaffte ihr damit eine stabile Mehrheit für den Beschluss des Haushalts. Er war im Januar aus Protest gegen das Waffenruhe-Abkommen ausgetreten. Am Mittwoch folgten in Gaza israelische Bodentruppen, in der Nacht zu Freitag stimmte Netanjahus Kabinett schließlich für die Entlassung Bars.

Die größten Unternehmen im Land drohen damit, die Wirtschaft lahmzulegen

Nach der Gerichtsentscheidung am Freitag formierte sich in Israel breiter Widerstand gegen die Regierung. Ein wichtiges Wirtschaftsforum drohte Medienberichten zufolge damit, die Wirtschaft des Landes lahmzulegen, sollte die Regierung dem Gerichtsbeschluss nicht Folge leisten. Das Forum vertritt Führungskräfte der 200 größten Unternehmen im Land.

Auch Dutzende der größten Unternehmen der Hightech-Branche, die in Israel als treibender Motor der Wirtschaft gilt, schlossen sich laut der Nachrichtenseite ynet an. Eine Missachtung des Gerichts stelle eine „rote Linie“ dar, hieß es dem Bericht zufolge in einer Erklärung. Auch der Gewerkschafts-Dachverband Histadrut, der rund 800 000 Mitglieder vertritt, sprach demnach eine Warnung aus. Die Regierung stehe nicht über dem Gesetz.

Mehr als 40 Bürgermeister aus dem ganzen Land hätten laut der Times of Israel ebenfalls ein Schreiben unterzeichnet, in dem sie Netanjahu auffordern, „unverzüglich zu verkünden, dass die israelische Regierung dem Urteil des Obersten Gerichtshofs nachkommen wird“. Zu den Unterzeichnern gehörten die Bürgermeister von Tel Aviv und Haifa. Auch viele Universitäten hätten mit Streiks gedroht.

Hintergrund der harten Auseinandersetzung um den Geheimdienstchef ist die Frage, in welcher Weise Netanjahus Regierung eine Mitverantwortung für die Angriffe der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas auf Israel trägt, bei denen mehr als 1200 Menschen starben und 251 entführt wurden. Die Ermittlungen gegen Netanjahus Mitarbeiter betreffen deren mögliche Verbindungen zu Katar. Der Staat gilt als einer der wichtigsten Unterstützer der Hamas.

Netanjahu hatte sich bislang gegen eine offizielle Untersuchung der politischen Verantwortlichkeiten für das Massaker gewehrt. Stattdessen hat er mittlerweile seinen Verteidigungsminister und auch den Armeechef ausgetauscht. Ronen Bar, der Chef des für Terrorabwehr zuständigen Inlandsgeheimdienstes, hatte sein Versagen eingeräumt. Doch er sieht die Verantwortung auch bei der Regierung - und fordert Aufklärung.

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