Süddeutsche Zeitung

Nahost:Die Flammen schlagen hoch im Westjordanland

Seit einer Terrorwelle im Frühjahr hat Israels Armee schon 1500 Palästinenser verhaftet und 85 getötet. Bei den Razzien kommt es nun fast jede Nacht zu Schusswechseln. Es wächst die Angst vor einer neuen Intifada.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Die Woche hat im Westjordanland wieder blutig begonnen, mit Kämpfen an vielen Fronten. Im Jordantal geriet ein Bus mit israelischen Soldaten unter Beschuss: sieben Verletzte. In einem Flüchtlingslager nahe Ramallah kam es bei einer Razzia der israelischen Armee zu einer Schießerei mit militanten Palästinensern: vier Verletzte auf palästinensischer Seite. Bei einem ähnlichen Vorfall in der Nähe von Dschenin wurde ein Palästinenser getötet, 16 wurden verletzt.

Ruhephasen sind im nahöstlichen Konfliktgebiet immer nur die Pause zwischen zwei Eskalationen. Doch die aktuelle Runde der Gewalt ist so eruptiv, dass sie in israelischen Sicherheitskreisen bereits die Angst vor einer neuen Intifada aufkommen lässt. Eskalationspotenzial zumindest ist genug vorhanden, oft reicht ein Funke zur Explosion.

Begonnen hat der kriegerische Kreislauf bereits im Frühjahr: Nach einer Welle palästinensischer Terrorattacken in Israel mit insgesamt 19 Todesopfern griff die Armee im besetzten Westjordanland durch. "Wellenbrecher" wurde der Einsatz getauft, der sich vor allem gegen die unruhigen Regionen um die Städte Dschenin und Nablus im nördlichen Westjordanland richtet. Dort kommt es nun seit Monaten fast jede Nacht zu Militäreinsätzen. Armeechef Aviv Kochavi bilanzierte in dieser Woche, dass dabei bereits 1500 gesuchte Palästinenser verhaftet wurden und Hunderte Terroranschläge verhindert worden seien. Als Erfolg wird verbucht, dass es seit Mai keine neuen Terroranschläge innerhalb Israels gegeben hat.

Der Preis dafür ist allerdings hoch: Denn immer häufiger werden die israelischen Soldaten am Einsatzort bereits von Palästinensern erwartet, die mit Steinen, Molotowcocktails und zunehmend auch Schusswaffen ins Gefecht ziehen. Nächtliche Schießereien zwischen Armee und militanten Palästinensern sind die Regel geworden. Bereits 85 Palästinenser wurden in diesem Jahr von den israelischen Sicherheitskräften getötet. Das sind mehr als im gesamten Vorjahr.

Das Machtvakuum füllt nicht nur die Hamas, sondern auch gewaltbereite junge Männer

Unter den Toten sind immer wieder auch Unbeteiligte wie ein junges Mädchen, das auf dem Heimweg von der Schule von einer israelischen Kugel getroffen wurde, oder die bekannte Al-Jazeera-Reporterin Shireen Abu Akleh. Die meisten aber sind junge Kämpfer, die schnell in den Helden- und Märtyrerstatus erhoben werden. Als eine Art Identifikationsfigur kann dabei ein 18-Jähriger namens Ibrahim al-Nabulsi gelten, der Anfang August in Nablus nach einem dreistündigen Feuergefecht erschossen wurde. Er hatte sich zuvor in den sozialen Medien mehrerer Angriffe auf Israelis gerühmt und seine Internetgefolgschaft noch während des finalen Gefechts in einem Video dazu aufgerufen, den Kampf nach seinem Tod fortzusetzen.

Die Gründe für den aktuellen Gewaltausbruch sind vielschichtig: Die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas haben die Kontrolle über Teile des Westjordanlands verloren, vor allem über die brodelnden Flüchtlingslager in Städten wie Dschenin und Nablus. Israels Armeechef Kochavi bezeichnet die Palästinenser-Führung bereits als "hilflos". Das Vakuum füllen nicht nur Gruppen wie die Hamas und der Islamische Dschihad, sondern auch wütende und gewaltbereite junge Männer wie al-Nabulsi. Dazu kommt eine Schwemme an verfügbaren Schusswaffen, die zum Teil über Syrien und Jordanien ins Westjordanland gelangen.

So geraten nun die in Israel gern verdrängten Probleme mit den Palästinensern im Westjordanland wieder hoch oben auf die Tagesordnung. Konzepte wie die vom früheren Premier Naftali Bennett propagierte "Schrumpfung" des Konflikts durch wirtschaftliche Zugeständnisse erweisen sich als unzureichend. Angesichts des Unwillens, zu Verhandlungen über einen Friedensprozess und die Zwei-Staaten-Lösung zurückzukehren, bleibt keine andere Antwort auf den Gewaltausbruch als eine versuchte Eindämmung mit noch mehr Gewalt.

Schwäche kann sich Israels Regierung auch kaum leisten. Am 1. November wird wieder gewählt, und die rechte Opposition um Benjamin Netanjahu treibt Premierminister Jair Lapid in Sicherheitsfragen vor sich her. Zudem muss sich Lapid auch noch im internen Konkurrenzkampf mit Verteidigungsminister Benny Gantz bewähren.

All dies kann schnell in einen Teufelskreis führen. Auf jeder Beerdigung für einen getöteten Palästinenser erschallen die Racheschwüre in Richtung Israel. Dort zeigen sich Regierung und Armeeführung auch zur Intensivierung des Militäreinsatzes bereit. "Unsere Aufgabe ist es, den Terror zu unterbinden", sagte Armeechef Kochavi. "Wir werden dafür, wenn nötig, gegen jede Stadt, jedes Viertel, jede Straße, jedes Haus und jeden Keller vorgehen."

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