Süddeutsche Zeitung

Nahostkonflikt:Der Leichenraub von Dschenin

Militante Palästinenser entführen einen toten Israeli aus einem Krankenhaus. Erst nach 30 Stunden geben sie ihn frei. Protokoll eines verstörenden Vorfalls.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Gute Nachrichten kann es nicht geben in diesem Fall, aber so viel vorweg: Die Leiche von Tiran Ferro ist am frühen Donnerstagmorgen zurückgegeben worden an seine Eltern. Zuvor hatten militante Palästinenser sie aus einem Krankenhaus in Dschenin entführt, weil sie den 17-jährigen Schüler, einen Drusen mit israelischem Pass, offenbar für einen israelischen Undercover-Agenten hielten. Empörung und Drohungen steigerten sich danach in gefährlichem Maße, der abstruse Fall des Leichenraubs wirkt wie ein nekrophiler Plot aus der Netflix-Serie "Fauda", die allerhand verwickelte Operationen israelischer Sicherheitskräfte in den besetzten Gebieten zeigt. Doch als das Drama nach 30 Stunden beendet war, blieb allein die Erkenntnis, dass dieser ewige Konflikt einen weiteren ethischen Tiefpunkt erreicht hatte.

Der reale Thriller begann am Dienstag mit einer unbedachten Fahrt von Ferro und seinem Freund in die palästinensische Stadt Dschenin im Westjordanland. Israelis ist das aus Sicherheitsgründen eigentlich verboten, doch viele israelische Araber und auch die Arabisch sprechenden Drusen nutzen solche Ausflüge gern zu billigen Einkäufen. Die beiden jungen Männer aus Daliyat al-Karmel im Norden Israels wollten in Dschenin ihr Auto reparieren lassen. Kurz vor dem Ziel wurden sie jedoch in einen schweren Unfall verwickelt. Der eine Verletzte wurde schließlich per Hubschrauber nach Israel gebracht. Ferros Zustand war jedoch zu kritisch für den Transport, er landete im Krankenhaus von Dschenin.

Als dies die Runde machte in der Stadt, stürmten in der Nacht rund 20 Bewaffnete die Station und bemächtigten sich des Jungen. Nach Angaben der israelischen Armee war er zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Ein Familienmitglied, das am Krankenbett saß, verbreitete jedoch eine andere Version. Demnach haben die Entführer Tiran Ferro von einem Beatmungsgerät abgetrennt, in ein Auto verfrachtet und mitgenommen. Verschleppt haben sie ihn offenbar ins Flüchtlingslager von Dschenin, eine Hochburg besonders radikaler Palästinenser.

Nach der Übergabe an den Roten Halbmond wurde der Leichnam ein zweites Mal entführt

Als die Entführung am Mittwochmorgen bekannt wurde, explodierten in Jerusalem gerade zwei Bomben an Bushaltestellen. Das Land war aufgewühlt, und Premierminister Jair Lapid drohte den Entführern, sie hätten einen "hohen Preis" zu zahlen, wenn sie den Leichnam nicht umgehend zurückgeben würden. "Es gibt keinen Ort und keinen Terroristen, den wir nicht erreichen können", erklärte er.

In die Verhandlungen zur Freigabe waren Berichten zufolge auch Vermittler aus Ägypten, den USA und den Vereinten Nationen eingeschaltet. Es wurde Druck ausgeübt auf Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas, dessen schwacher Arm jedoch kaum noch bis zu Radikalen in Dschenin reicht. Ein erster Durchbruch zeichnete sich dennoch am Mittwochmorgen ab, als Ferros Leiche Vertretern des Roten Halbmonds übergeben wurde. Deren Wagen wurde jedoch kurz nach der Abfahrt von bewaffneten Männern gestoppt, der Leichnam wurde ein zweites Mal entführt.

Offenbar planten die Entführer, den Toten auszutauschen gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen. So haben es auch schon die im Gazastreifen herrschende Hamas und die libanesische Hisbollah vorexerziert. Doch Israel zeigte sich von Beginn an zu keinerlei Gesprächen darüber bereit. Parallel zu den Verhandlungen wurde ein militärischer Einsatz im Hexenkessel des Flüchtlingslagers geplant.

Tiran Ferro hätte am Donnerstag seinen 18. Geburtstag gefeiert

In all dem Aufruhr zeigten sich die trauernden Angehörigen Ferros äußerst besonnen. Man wolle nicht, dass Israel das Leben von Soldaten riskiere, um den Leichnam zurückzuholen, erklärten sie. "Wir sind bereit, noch ein paar Tage zu warten. Wir möchten nicht, dass noch eine andere Mutter in Israel weinen muss."

In der Drusen-Gemeinschaft jedoch stieg die Wut. Tausende demonstrierten in Daliyat al-Karmel und blockierten aus Protest den nahegelegenen Highway Nummer 6. Racheaktionen wurden beschworen, und der israelische Fernsehsender Channel 12 zeigte ein Video, in dem fünf maskierte Männer mit Gewehren drohten, nach Dschenin einzudringen und die Leiche auf eigene Faust zu befreien. Aus dem Süden des Landes wurde sogar ein Fall gemeldet, bei dem drei Palästinenser mutmaßlich von Drusen gekidnappt und verletzt worden waren.

Am Donnerstag um fünf Uhr in der Früh war der Spuk schließlich vorbei. Unter Vermittlung der Palästinensischen Autonomiebehörde von Abbas wurde die Leiche erneut an den Roten Halbmond übergeben und nach Daliyat al-Karmel gebracht. Dort wartete die Familie von Tiran Ferro, der am Donnerstag seinen 18. Geburtstag gefeiert hätte. Zu seinem Verhängnis war er zwei Tage zuvor nach Dschenin gefahren. An seinem Geburtstag wurde er nun beerdigt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5702843
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/pamu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.