Israel:Der Abgrund, zum Greifen nah

Israel: Israelische Frauenrechtlerinnen demonstrieren gegen die Justizreform - verkleidet als Figuren aus der TV-Serie "The Handmaid's Tale", die in einem dystopischen Gottesstaat spielt.

Israelische Frauenrechtlerinnen demonstrieren gegen die Justizreform - verkleidet als Figuren aus der TV-Serie "The Handmaid's Tale", die in einem dystopischen Gottesstaat spielt.

(Foto: Ohad Zwigenberg/AP)

Israel rühmt sich damit, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Doch nun warnt Präsident Herzog vor einem "Bruderkrieg" um die tiefgreifende Justizreform, die Premier Netanjahu plant. Es ist eine Spaltung, die lange abzusehen war.

Von Sina-Maria Schweikle

Mehr Demonstrationen. Mehr Menschen. Mehr Druck. Ein groß angelegtes Bündnis aus Oppositionellen und Gruppen der Zivilgesellschaft hat an diesem Donnerstag zu einem "Tag der Verschärfung des Widerstandes" aufgerufen. Studenten, Reservisten aber auch eine religiöse Gruppe aus der jüdischen Siedlung Efrat im Westjordanland sind dem Ruf der Organisatoren gefolgt. Auch die 27-jährige Yael Finkelstein will in Jerusalem auf die Straße gehen. "Ich habe Angst um den Verfall der Menschenrechte in unserem Land", sagt die Politikstudentin. Seit Ausbruch der Massenproteste im Januar geht sie regelmäßig protestieren. "Wir müssen die Regierenden auch unter der Woche stören. Wir dürfen nicht aufgeben."

Die Gräben in Israel sind tief. Von rund 9,7 Millionen Israelis sind jüngst 500 000 Menschen demonstrieren gegangen. Auslöser für die Unruhen ist die von Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seinen rechts-religiösen Koalitionspartnern auf den Weg gebrachte Justizreform. Demnach bekäme das Parlament unter anderem das Recht, Entscheidungen des Obersten Gerichts mit einer einfachen Mehrheit zu widerrufen. Das wäre ein klarer Angriff auf die Gewaltenteilung, monieren Netanjahus zahlreiche Kritiker. Außerdem sollen Politiker bei der Ernennung und Entlassung von Richtern mehr Einfluss erhalten - bisher stimmt darüber ein Gremium aus Richtern, Abgeordneten und Vertretern der Rechtsanwaltskammer ab.

Doch nicht nur der Druck der Straße gegen Netanjahus Plan wächst. Der eigentlich qua Amt zu politischer Neutralität verpflichtete Präsident Isaac Herzog versucht mit aller Macht, Netanjahus Pläne zu stoppen. In einer Fernsehansprache am Mittwochabend sprach der Staatschef unumwunden von einem drohenden "Bruderkrieg" und davon, dass die Spaltung der Gesellschaft schon vorangeschritten sei.

Netanjahu will von Kompromissen nichts wissen

Das Land brauche bei der Justizreform dringend einen Kompromiss. Bei der Ernennung der Richter sei mehr Vielfalt notwendig und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen müssten stärker vertreten sein. Andernfalls drohe ein Absturz ins Chaos: "Diejenigen, die glauben, dass ein echter Bruderkrieg mit Todesopfern eine Grenze ist, die wir nicht überschreiten werden, haben keine Ahnung. Gerade jetzt, 75 Jahre nach der Gründung Israels, ist der Abgrund zum Greifen nah", sagte Herzog. Doch die Ernsthaftigkeit, die hinter diesen Worten und den Ereignissen der vergangenen Wochen steckt, scheint noch nicht bei allen angekommen zu sein - vor allem nicht beim Premier selbst: Ohne zu zögern wies Netanjahu brüsk den Kompromissvorschlag des Präsidenten zurück.

Während Benjamin Netanjahu am Donnerstag nach Berlin reiste, um Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu treffen, tobt in Israel also der Kampf um die Zukunft der Demokratie. Kritiker werfen Netanjahu vor, seine eigenen Interessen über die des Landes zu stellen: Mit der Aushebelung der Gewaltenteilung wolle er sich vor einer Verurteilung und der sich daraus womöglich resultierenden Amtsenthebung schützen. Ihm werden Bestechlichkeit, Betrug und Untreue vorgeworfen.

Doch das ist nur der eine Aspekt. "Es geht mittlerweile um viel mehr als um Netanjahu", sagt der israelische Soziologe Natan Sznaider in einem Telefonat mit der SZ. "Es geht um das Selbstbild Israels, das sich schon längst von der Figur Netanjahu gelöst hat." Das Land ist gespalten. Und das schon seit langer Zeit. Israel, so Sznaider, sei auf einer politischen, sozialen und kulturellen Suche danach, was es sein möchte. Unterschiedliche Einflüsse aus allen Regionen dieser Welt hätten ein Konglomerat der Kulturen und Identitäten geschaffen.

Immer weniger Israelis glauben, dass der innere Frieden hält

Diese Heterogenität führt laut Sznaider dazu, dass es nicht nur die "Gesellschaft" in Israel gibt, sondern "Gesellschaften". Das Land ist gespalten in Juden und Nicht-Juden. In orientalische Juden und westlich orientierte Juden. In Religiöse und Säkulare. In Traditionalisten und Modernisten. Letztlich sei die Spaltung, wie man sie heute in Israel sehe, ein Prozess, der schon vor mehr als 50 Jahren begonnen habe. "Was jetzt passiert, war schon lange abzusehen und ist nicht überraschend", sagt Sznaider.

Doch auch wenn die Entwicklung für den Experten nicht überraschend kommt - die Stimmung im Land ist betrübt, die Politik verharrt in einer Pattsituation. Das zeigt sich auch in Umfragen. Immer weniger Israelis glauben laut einer Umfrage des Israel-Instituts für Demokratie daran, dass der innere Frieden im Land bestand haben werde, eigentlich ein Grundpfeiler der israelischen Gesellschaft.

Wenn schon der Staatspräsident vor einem "Bruderkrieg" warnt, stellt sich die Frage, wie viel innenpolitischen Druck ein Land ertragen kann, das von so vielen Gegnern umgeben ist wie Israel. Viele Militäroffiziere, Piloten und Reservisten drohen inzwischen damit, den Dienst zu verweigern, wenn die umstrittene Justizreform umgesetzt wird. Das ist besonders bemerkenswert, gilt doch das israelische Militär als Garant für die Sicherheit des Landes und als einende Institution für alle Teile des jüdischen Staates.

Soziologe Sznaider sagt, die innenpolitische Situation sei am Überkochen. "Wirtschaft, Stabilität und Sicherheit, die drei Säulen auf denen Israels Stärke gebaut wurde, geraten durch die Situation im Land ins Wanken", so Sznaider. Wenn es so weitergeht, dann sei Israel endgültig im Nahen Osten angekommen, schlussfolgert Natan Sznaider etwas zynisch. Das einzig demokratische Land in der Region - es laufe Gefahr, seine Demokratie abzuschaffen.

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