Massenprotest in Israel:"Aufgeben ist keine Option"

Proteste in Israel gegen Justizreform

Die Botschaft: Hier demonstrieren Patrioten. Sehr viele Demonstranten gegen die Justizreform der Regierung Netanyahu bringen israelische Flaggen mit.

(Foto: AMIR COHEN/REUTERS)

Mehr als 80 000 Menschen demonstrieren in Tel Aviv gegen die geplante Justizreform der neuen rechts-religiösen Regierung. Die Ängste sind groß, die Töne teils schrill, doch die Adressaten schalten auf stur.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Wenn es mal regnet in Tel Aviv, dann regnet es richtig, aber nicht immer zur rechten Zeit. Als am Samstagabend die Demonstration gegen Israels neue rechts-religiöse Regierung beginnen soll, da öffnet der Himmel seine Schleusen, auch Donner grollt und ein paar Blitze zucken. Dicht gedrängt steht die Menge auf dem Habima-Platz, Schulter an Schulter, Schirm an Schirm, und wer keinen Schirm hat, ist ganz schnell nass bis auf die Haut. Mitten drin steht Tsvia Litevsky. "Was für ein schöner Regen", sagt sie und strahlt. "Das ist ein Test für uns."

Den Härte-, besser Nässetest hat Israels neue Protestbewegung wohl bestanden: Mehr als 80 000 Menschen sind nach Angaben der Polizei zur ersten großen Kraftprobe mit der neuen Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu gekommen. Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit, hatte ihnen vorab mit Wasserwerfern gedroht. Wen das nicht schreckt, der lässt sich ganz gewiss auch vom Regen nicht abhalten. Der Platz ist schnell überfüllt, die Menge drängt sich in den umliegenden Straßen, und als die Schirme wieder eingeklappt werden nach einer Stunde prasselnden Regens, da ist im Zentrum von Tel Aviv ein Meer an blau-weißen israelischen Flaggen zu sehen.

Eine Parade von Grauköpfen, die ein Israel vor Netanjahu kennen

Die Botschaft: Hier demonstrieren Patrioten. Hier stehen die, die das alte Israel retten wollen vor den Neuen an der Macht, vor den Ultrarechten und den Ultrareligiösen. Auffällig viele Ältere sind gekommen, eine Parade von Grauköpfen, die sich noch an ein Israel vor Netanjahu erinnern können, der anno 1996 schon zum ersten Mal Premierminister geworden war. Es sind die, die Angst haben, das Land zu verlieren, das sie aufgebaut haben. "Ich bin Zionistin", sagt Tsvia Litevsky, die mit ihren 73 Jahren auch zu den Veteranen des Protests gehört. "In einem Land, wie es jetzt ist, will ich nicht leben. Aber ich will es auch nicht verlassen, ich will es verändern."

Hier und heute geht es den Demonstranten allerdings vor allem ums Bewahren - um den Schutz der Demokratie . "Wir erlauben keinen Polizeistaat", steht auf den Schildern, oder: "Hände weg vom Obersten Gericht". Im Justizwesen hat die neue Regierung im Eiltempo bereits eine weitreichende Reform angekündigt, die de facto die Gewaltenteilung aushebeln würde zugunsten der regierenden Mehrheit. Allein die Nennung des dafür verantwortlichen Justizministers Jariv Levin bringt auf dem Habima-Platz die Menge in Wallung. Laute Buhrufe sind dann zu hören oder der Sprechchor "Schande, Schande".

Die Redner oben auf der Bühne fahren teils heftige Geschütze auf. Eliad Shraga, dessen "Bewegung für eine Qualitätsregierung" den Protest organisiert hat, schimpft auf die "Söhne der Dunkelheit" und die "schwarzen Schwäne" an der Macht. "Es ist immer noch besser, in der Kälte und im Regen einer liberalen Demokratie zu stehen als in der heißen Hölle einer faschistischen Diktatur."

Sie wollen auch an den nächsten Wochenenden auf die Straße gehen

Tsvia Litevsky unten im Publikum schätzt eher die leiseren Töne, zum Beispiel in der Rede von Ayala Procaccia, einer pensionierten Richterin am Obersten Gericht. Sie warnt von einer neuen, gefahrvollen Ära, in der "die Demokratie neu definiert wird - nicht mehr auf Werten basierend, sondern allein auf den Willen der Mehrheit ausgerichtet". Auch Tzipi Livni spricht Tsvia Litevsky aus dem Herzen. Sie wirft der rechten Regierung einen "Krieg gegen Israels demokratische Institutionen" vor, und sie verspricht: "Wir werden euch stoppen."

Aktive Politiker aus den Reihen der Opposition waren von den Veranstaltern nicht erwünscht als Redner. Man wolle sich, so hieß es, nicht vereinnahmen lassen von politischen Parteien. Oppositionsführer Jair Lapid hat Berichten zufolge deshalb auf eine Teilnahme am Protest verzichtet. Andere Parteiführer sind trotzdem gekommen. Lapids Konkurrent Benny Gantz, der vormalige Verteidigungsminister, veröffentlichte ein Video, in dem er abseits der Bühne per Megafon zur Menge spricht.

Massenprotest in Israel: "In einem Land, wie es jetzt ist, will ich nicht leben", sagt Tsvia Litevsky. Sie will es nicht verlassen, sondern ändern. Die 73-Jährige hat vor, weiter zu protestieren.

"In einem Land, wie es jetzt ist, will ich nicht leben", sagt Tsvia Litevsky. Sie will es nicht verlassen, sondern ändern. Die 73-Jährige hat vor, weiter zu protestieren.

(Foto: pm)

Sonderlich beeindruckt zeigt sich die Regierung am Tag danach nicht vom Massenprotest. In der Kabinettssitzung am Sonntagmorgen verweist Netanjahu auf eine "gewaltige Demonstration, die Mutter aller Demonstrationen", die vor einigen Wochen unter Beteiligung von Millionen von Menschen stattgefunden habe. Er meint die Wahl, aus der seine Koalition siegreich hervorging - und er leitet daraus den Auftrag zu allen Veränderungen ab.

Die Welle der Proteste wird er so nicht stoppen, angekündigt sind bereits weitere Demonstrationen an den kommenden Wochenenden. Auch Tsvia Litevsky will nächsten Samstag wieder auf dem Habima-Platz stehen. Ob die Proteste dazu führen werden, die Regierung von ihren Plänen abzuhalten, das vermag sie nicht zu sagen. Nur eines stellt sie klar: "Aufgeben ist keine Option."

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