„In letzter Zeit steht der Tod vor mir“, sagt Agram. Er ist Ende 20 und steht in der Innenstadt von Beirut vor einem Reisebus, der nicht so wirkt, als ob er noch fährt, so mitgenommen sieht er aus. Doch für Agram ist die Wahl des Beförderungsmittels das geringste Problem an diesem Tag. Vor acht Jahren ist er vor dem Krieg in Syrien nach Libanon geflüchtet, nun flüchtet er vor dem Krieg in Libanon dorthin zurück, woher er gekommen ist – wie etwa 400 000 andere Syrer. Sie alle gehen zurück in ein Land, in dem die Lage anders ist als damals, aber keineswegs nur besser, denn der Tod kann dort genauso plötzlich vor ihnen stehen wie in Beirut.
Acht Jahre lang hat Agram hier mit Freunden zusammengewohnt, hat an einer Tankstelle gejobbt, das reichte gerade mal so. Viele Hunderttausend Syrer sind in den vergangenen Jahren nach Libanon geflohen, dabei hat dieses Land schon genug eigene Probleme, und immer neue kamen hinzu: die Wirtschaftskrise, die Explosion im Hafen, die Corona-Epidemie. Für Agram war es dennoch besser, als in Syrien zu bleiben, wo er nichts verdient hat und vom Assad-Regime zwangsrekrutiert worden wäre für einen Militärdienst, der ewig dauern kann. Davor hat er so viel Angst gehabt, dass er in Beirut geblieben ist, obwohl das Leben hier immer schwieriger wurde, die Jobs rarer und die Vorurteile vieler Libanesen immer größer. Seit die Israelis vor einem Monat begannen, Beirut aus der Luft anzugreifen, überlegte er dann doch zu gehen. Als vor zwei Tagen sein Haus getroffen wurde, war die Entscheidung klar.
„Ich nehme nur das mit zurück, was ich an mir habe“, sagt Agram
Ganz in der Nähe von Agram und dem alten Reisebus steht ein Obelisk in einem großen Kreisverkehr. Das Monument ehrt den Vater des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Hafiz al-Assad regierte Syrien selbst drei Jahrzehnte lang und mischte sich heftig in die Belange des Nachbarn Libanon ein. Der Sohn tat es ihm gleich, sein Regime soll 2005 an der Ermordung von Libanons Staatschef Rafik al-Hariri beteiligt gewesen sein, den eine Autobombe in die Luft jagte. Danach war die Wut groß bei vielen Libanesen, sie gingen auf die Straße und jagten die syrischen Truppen aus dem Land. Nur ein paar Jahre später begann der Bürgerkrieg in Syrien, kamen Hunderttausende Flüchtlinge ins Land, das selbst kaum über die Runden kommt. „Sie nehmen uns alles weg“, sagt ein libanesischer Busfahrer, der sein Geld damit verdient, Syrer über die Grenze zu bringen.
„Ich nehme nur das mit zurück, was ich an mir habe“, sagt Agram. Als sein Haus im Süden von Beirut getroffen wurde, war er gerade bei der Arbeit. Oft warnt die israelische Armee im Voraus, welche Gebäude sie in Kürze treffen wird, weil sich dort Einrichtungen der Hisbollah befinden würden. Manchmal aber auch nicht. Mehr als eine Million Menschen sind bereits vor den Bomben geflohen, viele haben alles verloren, wie Agram. Er konnte nicht einmal mehr seine Papiere aus den Trümmern holen, hat nur eine Kopie seines Passes im Telefon und 180 Dollar für die Fahrt, 80 für den Bus, 100 für den Zwangsumtausch an der Grenze, mit dem das syrische Regime seine Devisen aufstockt. Vielleicht wird Agram gleich verhaftet und in die Armee gesteckt, geschieht also genau das, wovor er acht Jahre zuvor geflohen ist. Aber jetzt zuckt Agram nur noch mit den Schultern und steigt in den Bus, der mit ihm davonfährt, vorbei am Assad-Denkmal nach Norden, in eine Zukunft, von der er nichts erwartet.
Alis Frau und Kinder sind schon zurück in Rakka. Er bleibt noch, um Geld zu verdienen
Ein paar Meter weiter sitzt Mahmut Ibrahim Ali auf seinem Motorroller. Vor ihm liegt das Hab und Gut seiner Familie in großen schwarzen Plastiksäcken, Kleidung, Decken, Matratzen. Etwa 300 Dollar muss der 34-Jährige zahlen, damit ein Bus das alles in die alte Heimat bringt, wohin seine Frau und die fünf Kinder vor zehn Tagen geflohen sind, nachdem auch ihre Wohnung zerstört worden war. Die Busse fahren über die Berge bis in die libanesische Bekaa-Ebene, bei Masnaa geht es dort nicht mehr weiter, weil die Israelis die Straße zerbombt haben. Die Passagiere müssten mit ihrem Gepäck an dem Bombenkrater vorbeilaufen, so erzählt es ein Busfahrer.
Wie gefährlich die Reise durch das Gebiet ist, zeigt eine Meldung von diesem Freitag: Ebenfalls in der Bekaa-Ebene sollen dem israelischen Militär zufolge bei einem Luftangriff auf den Grenzübergang Dschusija drei Menschen getötet worden sei. Der Übergang sei nicht mehr passierbar. Am Übergang Masnaa sollen immerhin auf der anderen Seite des Kraters Busse warten, die nach Damaskus fahren, wie der Busfahrer versichert.
Von dort geht es in die verschiedenen Landesteile, in denen die großen Schlachten zwar vorbei sind, aber weiter gekämpft wird: In Idlib bombardieren die Russen Rebellen und Islamisten, im Norden greift die Türkei an, iranische Milizen und Beduinen kämpfen mit- oder gegeneinander, der Islamische Staat wird wieder stärker.
Die Säcke von Mahmut Ibrahim Ali müssen unterwegs wohl mehrmals umgeladen werden, bevor sie nach Rakka kommen, in die Stadt, die wahrscheinlich härter getroffen wurde als jede andere in Syrien. Rakka war vier Jahre lang die Hauptstadt des IS-Kalifats, vor dem auch Ali und seine Familie geflüchtet waren. Jetzt sind seine Frau und Kinder wieder dort, er selbst bleibt noch in Beirut. „Zu Hause würde ich nur 50 Dollar im Monat verdienen, davon können wir nicht leben.“ In Beirut fährt er mit seinem Roller Dentalbedarf zu Zahnarztpraxen, noch läuft es einigermaßen, obwohl Israel die libanesische Hauptstadt immer öfter bombardiert. Zurück nach Hause will er noch nicht, weil er auf dem Weg dorthin in die Armee eingezogen werden könnte.
In Beirut ist die Hilfsbereitschaft groß. Nur den Syrern hilft kaum einer
In Rakka selbst gehört Ali zur Minderheit der Sunniten, die Stadt wird kontrolliert von Kurden, die im Nordosten Syriens eine autonome Republik gegründet haben. Wenn er seine Kinder dort in die Schule schickt, werden sie nur auf Kurdisch unterrichtet – und würden, falls das Assad-Regime einmal Rakka übernimmt, als Verräter gelten. Deshalb lässt Ali seine Kinder vorerst zu Hause unterrichten.
Ein Zuhause in Beirut hat Ali nicht mehr, die Wohnung ist zerstört, sein Erspartes verloren. Er schläft bei Freunden, jeden Tag bei anderen, weil er niemandem zur Last fallen will. Den Freunden nicht und auch nicht dem Land, das immer mehr in den Nahostkrieg hineingezogen wird. Der Staat ist schwach, aber die Solidarität immer noch groß, Zehntausende Freiwillige kochen und sammeln Kleidung, spenden Zelte und helfen auch den zahlreichen Migranten aus Afrika, die von ihren Arbeitgebern einfach auf die Straße gesetzt wurden.
Nur für die Syrer gibt es kaum noch Hilfe, sie werden von vielen Libanesen für all die Probleme mitverantwortlich gemacht. Mahmut Ibrahim Ali will trotzdem bleiben, so lange es geht. Eine andere Perspektive sieht er nicht.