Am Dienstagabend hat es im Nahen Osten eine weitere Eskalation gegeben: Laut israelischen Angaben feuerte Iran ballistische Raketen auf Israel ab, von rund 180 Geschossen war die Rede. In Israel waren Sirenen zu hören, laut Augenzeugenberichten gab es in Tel Aviv starke Explosionen, für eine Weile wurde der Luftraum geschlossen. Videos zeigten Raketen, die die israelische Luftverteidigung nicht abfangen konnte. Der israelische Militärsprecher Daniel Hagari bestätigte, dass einige Raketen eingeschlagen seien. Israelische Medien meldeten mehrere Verletzte und einen Toten, bei Jericho kam während des iranischen Angriffs offenbar ein Palästinenser ums Leben.
Dennoch bezeichnete die US-Regierung den iranischen Raketenangriff auf Israel als „vereitelt und unwirksam“ und drohte mit Konsequenzen. Daran arbeite man nun zusammen mit Israel. Es handele sich um eine „bedeutende Eskalation“, sagte Sicherheitsberater Jake Sullivan. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu kündigte Vergeltung an. „Iran hat heute Abend einen großen Fehler gemacht – und es wird dafür bezahlen“, sagte er. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sollte noch am Mittwochabend zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen. Es ist der zweite direkte iranische Angriff auf den jüdischen Staat in diesem Jahr, schon im April hatte das iranische Militär Raketen und Drohnen in Richtung Israel geschossen, damals richteten diese allerdings kaum Schaden an.
Iran spricht von Vergeltung für den Tod von Hisbollah-Chef Nasrallah
Der Angriff vom Dienstag sei Irans Vergeltung für den Tod von Hassan Nasrallah, sagte die iranische Revolutionsgarde, die für die Raketen des Landes verantwortlich ist. Der Anführer der Hisbollah-Miliz war am Freitagabend bei einem israelischen Luftangriff getötet worden. Aber auch den Tod des Hamas-Führers Ismail Hanija in Teheran räche man damit, so die Revolutionsgarde. Mehr Raketen würden folgen, sollte Israel Iran angreifen. Der iranische Präsident Massud Peseschkian schrieb auf X, Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu solle wissen, dass Iran kein kriegslüsternes Land sei, „aber jeder Bedrohung entschlossen entgegentritt“. Er warnte: „Dies ist nur ein Bruchteil unserer Fähigkeiten. Legen Sie sich nicht mit Iran an.“
Auch wenn das iranische Regime seine Vergeltung also für abgeschlossen erklärte, sind die beiden verfeindeten Länder einem Krieg noch näher gekommen. Im April beließ es Israel bei einer eher harmlosen Antwort – wie es im Nahen Osten jetzt weitergeht, wird davon abhängen, wie die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu in den kommenden Tagen reagiert.
Tagsüber hatten die israelischen Streitkräfte den Kampf gegen die mit Iran verbündete Hisbollah ausgeweitet und eine Bodenoffensive im Süden Libanons begonnen. Israelische Soldaten überquerten die Grenze und wurden dabei von Luftwaffe und Artillerie unterstützt. Die Armee sprach von „begrenzten“ Angriffen auf Einrichtungen der islamistischen Terrororganisation in Grenznähe.
Israels Verteidigungsminister Joav Gallant hatte in der Nacht zuvor mit seinem US-amerikanischen Kollegen Lloyd Austin telefoniert. Dieser erklärte anschließend, beide seien sich einig, „dass es notwendig sei, die Angriffsinfrastruktur entlang der Grenze abzubauen, damit die Hisbollah keine Angriffe nach Vorbild des 7. Oktobers auf Nordisrael ausführen“ könne. Allerdings betonte Austin die Überzeugung der USA, dass nur eine diplomatische Lösung erreichen könne, dass die etwa 60 000 Israelis, die ihre Häuser im Norden des Landes verlassen mussten, zurückkehren können. Dies hatte Israels Premier Netanjahu erst vor zwei Wochen zum Kriegsziel erklärt.
Israel möchte die Hisbollah zurückdrängen, damit ihre Bürger nicht länger bedroht sind
Seit mindestens zwei Wochen wurde berichtet, dass die israelischen Streitkräfte eine Sicherheitszone einrichten wollen. Es geht um ein Gebiet, das laut UN-Resolution eigentlich seit dem Libanon-Krieg 2006 entmilitarisiert und frei von Hisbollah-Kämpfern sein sollte. Die Hisbollah, die über Zehntausende Raketen und Drohnen verfügt, soll so weit zurückgedrängt werden, dass die Ortschaften in Nordisrael nicht mehr so stark bedroht sind.
Kurz vor dem 7. Oktober 2024, dem ersten Jahrestag des mörderischen Hamas-Überfalls mit mehr als 1100 getöteten Israelis und der Verschleppung von 250 Geiseln in den Gazastreifen, ging der Konflikt am Dienstag damit in eine neue Phase: Bevor Iran seine Raketen startete, hatte Israel in Libanon seine militärische Überlegenheit bewiesen. Die Kämpfe gegen die Hamas im Gazastreifen sowie in anderen Gebieten führen die israelischen Streitkräfte nach eigenen Angaben fort.
Als Reaktion feuerte die schiitische Hisbollah-Miliz am Dienstag mindestens drei Raketen auf die Küstenmetropole Tel Aviv ab. In Libanon wird befürchtet, dass die Zahl der Binnenflüchtlinge auf bis zu eine Million steigt, vor allem im Süden und Osten sowie im Raum der Hauptstadt Beirut. Die Vereinten Nationen riefen zu Spenden auf: Bis Ende des Jahres seien mehr als 380 Millionen Euro nötig, um die Menschen mit Lebensmitteln, spezieller Nahrung für Kinder, Wasser, Matratzen, Hygiene- und Gesundheitsartikeln zu versorgen.
In Nordisrael schlugen Dutzende Raketen der Hisbollah ein, ohne größeren Schaden anzurichten. Für zahlreiche Gemeinden im ganzen Land, darunter auch Tel Aviv und Jerusalem, wurden die Sicherheitsvorkehrungen ausgeweitet. Versammlungen sind nur noch eingeschränkt möglich, und die Bevölkerung muss sich in der Nähe von Luftschutzbunkern aufhalten.
Viele israelische Medien erinnern in ihren Analysen daran, dass die Armee seit 2006, als der letzte Krieg endete, einen solchen Einsatz gegen die Hisbollah in Libanon geplant und geübt habe. In den vergangenen Monaten sind Spezialeinheiten mehrmals nach Südlibanon eingedrungen, um die nun begonnene Operation vorzubereiten, wie zuerst das Wall Street Journal berichtete. Der Militärexperte der Netanjahu-freundlichen Zeitung Israel Hayom berichtet von drei Optionen für die Streitkräfte. Die könnten „wenige Wochen“ nahe zur Grenze operieren und die Terror-Infrastruktur der Hisbollah, etwa Tunnel und Waffenlager, zerstören. Die zweite Variante wäre ein Vorrücken bis zum Litani-Fluss, um noch mehr Infrastruktur unschädlich zu machen. Denkbar wäre auch ein Überschreiten des Flusses, um die Hisbollah weiter zu schwächen.
Experten warnen davor, die Hisbollah zu unterschätzen
Welche Option gewählt wird, hänge von den eigenen Verlusten und der Gegenwehr der Hisbollah ab. Die Sorge, dass israelische Soldaten gekidnappt werden, wird mehrmals erwähnt. Die Zeitung Jedi’ot Acharonot warnt davor, nach den Erfolgen der vergangenen Tage leichtsinnig zu werden und den Feind zu unterschätzen: Die Hisbollah habe jahrelang geübt, wie sie mit „leichten Waffen, Scharfschützen und Sprengfallen“ den israelischen Streitkräften Verluste zufügen kann. Auch wenn viele Kommandeure getötet wurden, agiere die Hisbollah auf dem eigenen Gelände und habe somit „Heimvorteil“.
Offenbar diskutiert die politische und militärische Führung in Israel auch ein Bombardement der iranischen Atomanlagen. Die Erfolgschancen seien besser als je zuvor im vergangenen Jahrzehnt, sagen Befürworter. Die Fürsprecher, so schildert es etwa der bekannte israelische Kolumnist Nadav Eyal, führten neben der enormen Schwächung der iranischen Verbündeten Hamas und Hisbollah auch die US-Wahl Anfang November an – ein Veto aus dem Weißen Haus sei nicht zu erwarten.
Andere warnen, dass dies zu einem regionalen Krieg führen würde und die israelischen Streitkräfte nicht alle iranischen Zentrifugen, die zur Anreicherung von atomwaffenfähigem Uran nötig sind, zerstören könnten.
Gleichzeitig gibt es Berichte, wonach mehrere westliche Staaten die Führung in Teheran vor einer militärischen Unterstützung der Hisbollah in ihrem Kampf gegen Israel gewarnt haben. Diese könnte nämlich israelische Angriffe auf Anlagen der iranischen Ölindustrie oder des Atomwaffenprogramms provozieren. Öffentlich und ziemlich eindeutig äußerte sich US-Verteidigungsminister Lloyd Austin auf der Plattform X: „Ich habe erneut auf die schwerwiegenden Konsequenzen für Iran hingewiesen, falls es sich zu einem direkten militärischen Angriff auf Israel entschließen sollte.“
Dazu kam es nun. Noch am Abend tagte in einem Bunker der Regierung in Jerusalem das israelische Sicherheitskabinett.