Nahostkonflikt:Israel leidet an seinem Kreislauf der Rache

MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS AL SHEJAEIYA NEIGHBOURHOOD

Der Nahostkonflikt spiegelt sich schon seit Jahren auf mehr oder weniger künstlerische Weise an Häuserwänden und in den Ruinen.

(Foto: Mohammed Saber/dpa)
  • Seit Oktober vergeht in Israel kein Tag ohne Blutvergießen, es ist von einer neuen Intifada die Rede.
  • 24 Israelis und ein US-Bürger sowie mehr als 150 Palästinenser verloren bislang ihr Leben.
  • Die konflikterprobte israelische Armee tut sich schwer, die Gewalt in den Griff zu bekommen.

Von Peter Münch, Ramallah/Tel Aviv

Draußen dreht sich die Gewalt im Kreis, Palästinenser greifen Israelis an, Israelis schießen Palästinenser nieder. Hier drinnen aber, mit grandiosem Ausblick über Ramallah und die Hügel, herrscht die Stille einer Gelehrtenstube. Bücher von Aristoteles und Rousseau stehen im Regal, der Aschenbecher füllt sich fast von allein, und Said Zidani, Philosophie-Professor an der palästinensischen Al-Kuds-Universität, sagt: "Jetzt reden wieder alle über eine Intifada, und jeder stopft da irgendwas rein, was er sich erhofft. Aber für mich ist das keine Intifada. Es ist eine Welle, eine Eruption."

Man muss wohl einmal mitten hineinfahren ins Westjordanland, ins Zentrum des jüngsten Aufruhrs, um dann von oben aus, vom fünften Stock eines gepflegten Wohnhauses, in dem Said Zidani lebt und liest, auf das Chaos da unten zu schauen.

Seit Anfang Oktober vergeht kaum ein Tag ohne Messerattacken, ohne Schießereien, ohne Blutvergießen. Am Anfang fragte sich jeder: Wann hört das auf? Es hörte nicht auf. Die zweite Frage war: Wo führt das hin? Darauf gibt es mittlerweile eine Kakophonie von Antworten, schrill und hilflos, aber immer kämpferisch. Die israelischen Zeitungen nennen es schon lange Intifada, INTIFADA in Großbuchstaben. "Intifada", brüllen auch die radikalen palästinensischen Gruppen und die radikalisierten Kinder mit den Steinen in der Hand.

174 Tote hat es auf beiden Seiten schon gegeben

Unumstößlich sind die Fakten: Getötet wurden auf der einen Seite bereits 24 Israelis und ein US-Bürger, auf der anderen Seite verloren mehr als 150 Palästinenser ihr Leben, von denen zwei Drittel nach Angaben der israelischen Armee Angreifer oder mutmaßliche Angreifer waren. Die anderen wurden bei Unruhen erschossen. Gewalt ist stets ein Déjà-vu im Nahen Osten, sie drängt nach Erklärung und Einordnung. Aber das, was nun gerade passiert, ist neu, selbst für die, die seit Jahrzehnten einordnen und erklären.

Said Zidani ist 66 Jahre alt, aber längst nicht so alt wie der Konflikt. "Wenn du in der Geschichte zurückgehst, dann siehst du, dass es alle zehn bis 15 Jahre eine Welle der Gewalt und des Widerstands gab", erklärt er: Da waren die Kämpfe zwischen Arabern und Juden noch während der britischen Mandatszeit, dann die vielen Kriege. Angefangen mit der israelischen Staatsgründung 1948, und schließlich die beiden palästinensischen Aufstände, die als Erste und Zweite Intifada in die Annalen eingingen.

Die Erste Intifada war der "Krieg der Steine" 1987 bis 1993, sie endete - nach rund 200 Toten auf israelischer und 1200 Toten auf palästinensischer Seite - mit den Friedensverträgen von Oslo. Zidani lehrte damals an der Bir-Zeit-Universität, er erinnert sich an Massendemonstrationen, an Generalstreiks und Boykotte. "Fast alle Palästinenser haben teilgenommen", erklärt er.

Die Intifada II zwischen 2000 und 2005 war die Zeit der Selbstmord-Bomber und massiven Militäreinsätze, in der mehr als 1000 Israelis und 3500 Palästinenser ihr Leben verloren. "Auch hier war jede palästinensische Stadt und jedes Dorf beteiligt, alle Altersgruppen waren dabei und sogar die Sicherheitskräfte", sagt er.

Heute dagegen sieht er keine Massenbasis hinter der Welle der Gewalt. "Die Attentäter sind vor allem Jugendliche, sie haben keine Verbindung zu den politischen Gruppierungen, keine Führung und nicht einmal einen Plan", meint er. Er spricht von "individuellen Initiativen" - und sieht das an seinen eigenen Studenten, von denen auch einige zu Angreifern wurden. "Sie imitieren sich gegenseitig", sagt Zidani, "für diese Kinder ist das wie ein Nationalsport."

Rechtfertigen will er die Gewalt nicht, aber er verweist auf "allgemeine und konkrete Hintergründe". Da sei das "politische Vakuum" ohne Friedensprozess, dazu die "Desillusionierung über die eigene Führung". Zudem befeuere die Siedlergewalt den Kreislauf der Rache. "Es ist aber nicht nur Verzweiflung, was die Angreifer antreibt. Für sie ist es ein Akt des Widerstands", sagt er. "Sie wissen, dass sie erschossen werden oder im Gefängnis verschwinden. Aber sie wollen Angst verbreiten, damit die Israelis die Besatzung nicht vergessen."

Janus im Westjordanland

Zidani rechnet damit, dass diese Welle wieder abebbt, irgendwann. "Es kann noch eine Weile so bleiben, aber ohne politisches Programm kann es nicht ewig weitergehen", sagt er. Im Hintergrund beobachtet aber auch er, wie die tonangebenden Parteien versuchen, eine Position zum Aufruhr zu finden. Die im Gazastreifen herrschende Hamas versucht beharrlich, sich an die Spitze zu setzen, beschwört die neue "Intifada" und ruft zu immer neuen Anschlägen auf.

Die im Westjordanland regierende Fatah dagegen reagiert janusköpfig - lässt einerseits "Märtyrer" hochleben, verurteilt andererseits die Gewalt. Nebenher wird die Sicherheitskooperation mit Israel beibehalten. Madschid Faradsch, mächtiger Chef der palästinensischen Geheimdienste, prahlt sogar, dass durch seine Leute in den vergangenen drei Monaten 200 Anschläge verhindert worden seien.

Dschihad Manasra kennt dieses Spiel, es ist das Spiel der alten Garde, und deren Regeln will er sich nicht mehr unterwerfen. 25 Jahre ist er alt, und dass er nun erst im ersten Semester "Politik und internationale Beziehungen" an der Bir-Zeit-Universität studiert, hat damit zu tun, dass er sieben Jahre in einem israelischen Gefängnis saß. "Widerstand gegen die Besatzung", mehr sagt er nicht. Seit der Haftentlassung vor sieben Monaten ist er in der Studentenvertretung aktiv. "Wir haben entschieden, die Besatzung direkt zu konfrontieren, gewaltfrei oder auch mit nicht-friedlichen Mitteln", erklärt er. "Das fängt dann bei Steinen an und hört bei Gewehren auf."

"Wenn es keine politischen Fortschritte gibt, kann es zur Intifada werden"

Auch er will noch nicht von einer Intifada sprechen, er nennt es "Habbeh". Aufruhr heißt das. Eine Stufe unterhalb von Intifada, was im Arabischen "sich erheben" bedeutet, "abschütteln", "loswerden". Aber je länger es dauert, davon ist er überzeugt, desto größer werde der Aufruhr. "Wenn es keine politischen Fortschritte gibt, kann es zur Intifada werden", sagt er. "Wir warnen davor, das würde schlimme Verluste für beide Seiten bedeuten."

Mit 25 Jahren hat er große Pläne. Träumt, in Oxford zu studieren, beim British Council lernt er dafür Englisch. Später will er Politiker werden oder Diplomat, aber ein Vorbild kann er nicht finden. Von den internationalen Politikern kommt keiner infrage, von ihnen fühlen sich alle Palästinenser im Stich gelassen. "Ich mag Merkel", sagt Manasra, "aber nur ihren Charakter und was sie für die Flüchtlinge tut, nicht, was sie mit uns macht." Zu Hause in den Palästinensergebieten sieht es noch düsterer aus in Sachen Leitfigur. "Wir brauchen eine neue Generation", meint er. Doch ehe die etwas bewegen könne, müssten die Verhältnisse geändert werden.

"Wir sind in einer Sackgassen, und wir sind frustriert", klagt er, "wir wollen unsere Freiheit, und wir protestieren, damit unsere Stimme wahrgenommen wird." Die wütende Jugend hört nicht mehr auf die Alten, sie kommuniziert per Facebook, sie schafft sich ihre eigene Welt des Widerstands und macht, was sie will, weil es sonst nichts zu tun gibt. Das verbindet jeden Einzelnen in diesem Aufruhr der Individuen. "Jeder junge Palästinenser ist Teil dieser Bewegung, es ist keine Wahl, es ist eine Pflicht", proklamiert Manasra. "Wir wissen, dass wir getötet werden können, aber das Blut, das heute vergossen wird, kann Blutvergießen in der Zukunft verhindern."

Die Entschlossenheit paart sich hier mit Pathos und Spontaneität, und genau diese Mischung macht es der konflikterprobten israelischen Armee so schwer, die Gewalt in den Griff zu bekommen. In Sicherheitskreisen spricht man statt von Intifada lieber von einer "neuen Wirklichkeit oder von "abnehmender Stabilität" - ein wirksames Rezept dagegen hat Israels Führung noch nicht gefunden. An markigen Worten fehlt es zwar nicht. Premierminister Benjamin Netanjahu hat einen "Kampf bis zum Tod" gegen den neuen Terror angekündigt. Verteidigungsminister Mosche Jaalon persönlich hat die Direktive ausgegeben, jeden "Attentäter noch am Tatort zu liquidieren". Aber ein Abschreckungseffekt ist bislang nicht zu spüren.

Die Statistiker im Sicherheitsapparat mögen sich damit beruhigen, dass im Januar bisher durchschnittlich nur ein Angriff am Tag erfolgte, während es im Oktober manchmal drei waren. Doch ringsherum wächst die Angst, dass dieser Aufruhr, der ständig sein Gesicht und den Schauplatz wechselt, irgendwann in eine neue, noch bedrohlichere Phase treten könnte.

Als Vorbote erscheint der Attentäter, der am Neujahrstag nach Pariser Muster auf der belebten Dizengoff Street in Tel Aviv in eine Bar feuerte und zwei Menschen tötete. Als Alarmzeichen gilt die Aushebung einer Hamas-Zelle im Westjordanland, die offenbar nicht nur Sprengstoff hergestellt, sondern bereits Selbstmord-Attentäter rekrutiert hatte. Denn wenn geschossen wird und wieder Bomben explodieren, gibt es dafür am Ende nur noch ein Wort: Intifada.

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