Naher Osten:Netanjahu droht der Hisbollah

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Zerstörtes Geschäft in Kirjat Schmona, einer israelischen Kleinstadt an der Grenze zu Libanon. (Foto: Leo Correa/dpa)

Israels Regierungschef sagt, dass er Tausenden Israelis die Rückkehr an die Grenze zu Libanon ermöglichen will. Deshalb erwägt er wohl einen Militäreinsatz gegen die Terrormiliz. Und plötzlich werden Hunderte Hisbollah-Kämpfer durch explodierende Pager verletzt.

Von Matthias Kolb

Die Mitteilung des israelischen Premierministers ist sehr kurz, aber sie könnte enorme Folgen haben und den Nahen Osten weiter destabilisieren. „Das Sicherheitskabinett hat die Kriegsziele aktualisiert, und diese beinhalten nun: die sichere Rückkehr der Bewohner in ihre Häuser“, hieß es am Montagabend aus dem Büro von Benjamin Netanjahu.

Auf eine „sichere Rückkehr“ warten seit einem knappen Jahr mehrere Zehntausend Israelis, die an der Grenze zu Libanon wohnen und ihre Heimat verlassen mussten, als der Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen begann. 61 000 Menschen aus 43 Orten wurden von der Regierung in Sicherheit gebracht. Mehrere Tausend gingen freiwillig, um den Raketen und Drohnen zu entkommen, von denen die schiitische Hisbollah-Miliz seit dem 8. Oktober 2023 nahezu täglich Dutzende auf Israel abfeuert. Dies geschieht angeblich aus Solidarität mit der Hamas, die am 7. Oktober Israel überfallen und dabei fast 1100 Israelis und 71 Ausländer ermordet hatte.

Die Hisbollah ist ein viel stärkerer Gegner als die Hamas

Keine 24 Stunden nach Netanjahus Mitteilung gab es am Dienstagnachmittag weitere Aufregung: Da tauchten erste Berichte und Videos aus Beirut auf, die offenbar zeigen, wie Menschen durch explodierende Pager verletzt und in Krankenhäuser gebracht werden. Am Abend erklärte Libanons Gesundheitsminister, im ganzen Land seien 2750 Menschen verletzt und acht getötet worden. Bei den Geräten, die zum Empfang kurzer Nachrichten dienen, soll es sich um neue Modelle handeln, die die Hisbollah in den vergangenen Monaten eingeführt habe. Vermutet wurde, dass Israel die Pager als Attacke auf Hisbollah-Kämpfer gezielt zur Explosion gebracht haben könnte. Die israelische Armee äußerte sich dazu zunächst nicht. Doch für die Hisbollah war der Schuldige sofort klar, sie drohte Israel noch am Abend mit Vergeltung. Damit steigt das Risiko einer Eskalation an einer weiteren Front in diesem Nahostkrieg wohl weiter.

Bislang stand die Hamas im Zentrum von Israels Kriegszielen: Deren militärische Fähigkeiten und ihr Regierungsapparat sollten zerstört und alle 250 Geiseln befreit werden. Zudem sollte vom Gazastreifen künftig keine Bedrohung mehr für Israel ausgehen. Das neue, nunmehr vierte Ziel fügt Netanjahu hinzu, weil der innenpolitische Druck wächst. Denn keine Regierung kann es hinnehmen, die Sicherheit seiner Bürger in deren Heimat nicht garantieren zu können, so wie es seit Monaten an der Grenze zu Libanon der Fall ist. 

Bei seinem Treffen mit Amos Hochstein, dem Sondergesandten von US-Präsident Joe Biden, sagte der konservative Premier, die Bewohner der Grenzregion könnten nicht zurück, „ohne dass es eine grundlegende Veränderung der Sicherheitssituation im Norden gibt“. Auch für Verteidigungsminister Joav Gallant ist der einzige Weg dahin „ein militärischer Einsatz“. Die Deutsche Presse-Agentur zitierte Quellen aus der Hisbollah, wonach man auf „jegliches Szenario“ vorbereitet sei.

Klar ist: Die Kampfkraft der Hisbollah ist viel stärker als jene der Hamas. Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass die von Iran unterstützte Hisbollah über 150 000 bis 200 000 Raketen verfügt und damit auch Israels Abwehrsysteme überfordern und jeden Punkt des Landes erreichen könnte. Die Zeitung Israel Hayom zitiert jedoch hochrangige Armeemitglieder, die davon ausgehen, dass mit Bodentruppen in kurzer Zeit eine „Sicherheitspufferzone“ errichtet werden könnte. Denn viele Mitglieder der Hisbollah-Elitetruppe, der Radwan-Einheit, seien tot oder im Norden. Zudem hätten etwa 100 000 libanesische Zivilisten die Grenzregion verlassen.

Idealerweise würden zwei Ziele erreicht: Die Hisbollah wird so weit zurückgedrängt, dass sie Nordisrael nicht mehr bedroht. Zudem bietet die Besetzung eines Streifens von libanesischem Gebiet gute Optionen für Verhandlungen mit der Miliz über eine langfristige, politische Lösung. Für diese Variante setzt sich neben US-Außenminister Antony Blinken, der am Dienstag in Ägypten Gespräche führte, vor allem Amos Hochstein ein. Wie das Portal Axios berichtet, warnte Bidens Gesandter Netanjahu vor einem Angriff auf Libanon. Die USA bezweifeln demnach, dass dadurch eine sichere Rückkehr der umgesiedelten Israelis möglich wäre.

Verteidigungsminister Gallant steht wohl vor dem Aus

Auf Axios hat ein hochrangiger US-Diplomat auch die Gerüchte kommentiert, Netanjahu wolle Verteidigungsminister Gallant feuern, mit den Worten: „Dies wäre verrückt.“ Obwohl Gallant wie Netanjahu dem konservativen Likud angehört, widerspricht er dem Premier oft öffentlich, was diesen erbost. Ex-Generalmajor Gallant ist seit Ende 2022 im Amt und wird in Washington wie in Europa respektiert. Nach dem Rücktritt von Benny Gantz aus dem Sicherheitskabinett, so zitiert die Tageszeitung Haaretz den Botschafter eines EU-Landes, war Gallant „der Einzige, mit dem wir einen vernünftigen Dialog haben und dessen Aussagen wir vertrauen konnten“.

Amos Harel, Sicherheitsexperte bei Haaretz, vermutet sogar, Netanjahu habe seine Rhetorik gegenüber der Hisbollah verschärft, um Gallants Widerspruch zu provozieren und so den Rauswurf zu begründen. Nun agiert Gallant in dieser Frage wie ein Hardliner, aber das dürfte ihn nicht retten. Mehrere Medien meldeten am Dienstag, Netanjahu und der Oppositionspolitiker Gideon Saar hätten sich geeinigt, den nächsten Generalstabschef gemeinsam auszuwählen. Saar solle Verteidigungsminister werden, er will noch härter gegen die Hamas vorgehen.

Saar gehört der Nationalen Einheitspartei an; mit deren vier Abgeordneten würde die Regierung in der Knesset über 68 der 120 Sitze verfügen. Damit, so sehen es kritische Beobachter, bekäme Netanjahu seine eigene Pufferzone: Weder Itamar Ben-Gvir, der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, noch die ultraorthodoxen Parteien könnten ihn dann so leicht unter Druck setzen. Bei den Ultraorthodoxen ist Gallant verhasst, weil er darauf besteht, dass das Gerichtsurteil umgesetzt wird, wonach strenggläubige Haredim-Männer künftig Wehrdienst leisten müssen.

Klar positioniert sich der Wirtschaftsverband „Israel Business Forum“: Er lehnt eine Absetzung Gallants ab. Entsetzt sind die Angehörigen der Geiseln, die sich noch in der Gewalt der Hamas befinden. Sie fürchten, Saars Nominierung wäre das „eindeutige Zeichen“, dass Netanjahu die Entführten endgültig im Stich lassen will.

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