Hisbollah:Spiel mit dem Feuer

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Längst ein Staat im Staat: Schwerbewaffnete Kämpfer der Hisbollah bei einer Übung im Süden Libanons. (Foto: Anwar Amro/AFP)

Seit Monaten schießt die Terrormiliz Hisbollah Raketen aus Libanon über die Grenze nach Israel. Solange ihr dabei keine Fehlkalkulation unterlief, war das Risiko überschaubar.

Von Bernd Dörries, Kairo

Schaut man auf die Karte, dann liegt Madschdal Schams schon seit Jahren in einer Krisenregion, die die Weltpolitik bestimmt wie nur wenig andere. Ein Städtchen mit ein paar Tausend Einwohnern, mitten in den von Israel besetzten Golanhöhen, zur syrischen Grenze sind es nur ein paar Meter, auch Libanon ist nicht weit mit der feindlichen Hisbollah. Dennoch war Madschdal Schams viele Jahre ein kleines Idyll am Fuße des Hermon, des einzigen richtigen Skigebiets Israels. Es gibt Wasserfälle und Nationalparks. Der Krieg fand bisher woanders statt. Die von Iran unterstützte Hisbollah hatte aus Libanon schon öfter militärische Einrichtungen etwa fünf Kilometer entfernt bombardiert. Aber Madschdal Schams hatte niemand als potenzielles Ziel auf der Liste. Weshalb der Ort auch nicht wie so viele andere im Norden Israels geräumt wurde.

In Madschdal Schams wohnen wenige, vielleicht gar keine Juden, sondern Drusen, eine arabischsprachige Religionsgemeinschaft, deren etwa eine Million Mitglieder über Libanon, Syrien und Israel verteilt leben. Sie wollen keinen eigenen Staat, leben loyal zu ihren jeweiligen Nationen. In Israel sind es etwa 150 000, die sich ihren Platz im Staat erkämpfen mussten: Im Jahr 1956 hatten sich die drusischen Führer und der Staat darauf geeinigt, die Wehrpflicht für israelische drusische Männer einzuführen. Kurz darauf wurden sie von Israel als eigenständige Religionsgemeinschaft und Ethnie anerkannt. Sie leben im Galiläa und südlich von Haifa. Nur die Drusen im Golan, verteilt auf vier Orte wie Madschdal Schams, haben bisher die israelische Staatsbürgerschaft weitgehend abgelehnt. Sie sehen sich mehrheitlich als Syrer, die Grenze ist direkt vor ihrer Haustür. Nur etwa 20 Prozent haben einen israelischen Pass.

Nach dem tödlichen Raketeneinschlag ist der Krieg auch in Madschdal Schams angekommen. Und der Ort wird wieder näher an das jüdische Israel herangerückt. Viele Drusen sind bis heute aber enttäuscht vom 2018 verabschiedeten Nationalstaatsgesetz, das Israel als die historische Heimat des jüdischen Volkes definiert – religiöse Minderheiten wie die Drusen finden dort keine Erwähnung.

Jetzt könnte es der Angriff auf eine nichtjüdische Minderheit sein, der Israel zu einem Angriff auf die Hisbollah in Libanon bringt – zum großen Schlag auf die von Iran aufgebaute Hisbollah in Libanon, die seit dem 8. Oktober Raketen auf Israel abfeuert. Die Hisbollah hat sich die Zerstörung Israels zum Ziel gesetzt, sehr zur Enttäuschung der Hamas bisher aber nur begrenzt in den Krieg eingegriffen. Wobei begrenzt relativ ist: Täglich feuert die Hisbollah Raketen auf den Norden Israels ab, wo etwa 60 000 Menschen ihre Heimat verlassen mussten, auf der libanesischen Seite sollen es fast 100 000 sein. Etwa 5000 Geschosse flogen bisher in beide Richtungen.

Der Hisbollah-Chef hielt immer aggressivere Reden

Das ist viel, dennoch betonten beide Seiten, keinen ganz großen Krieg zu wollen. Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah hielt in den vergangenen Monaten zwar immer aggressivere Reden, der Verlauf des Konfliktes machte aber deutlich, dass die Mullahs in Teheran die Hisbollah nicht für die Interessen der Hamas opfern würden, sondern nur dann, wenn Israel Iran selbst angreifen würde. Auch Israel wollte sich nicht mit einer weiteren Großfront belasten. Soweit die Theorie.

In der Praxis war immer klar, dass eine Fehlkalkulation oder eine verirrte Rakete alles verändern könnte. Das war schon 2006 der Fall, als die Hisbollah nach Israel eindrang, und zwei israelische Soldaten gefangen nahm, daraufhin begann der zweite Libanonkrieg, in dem israelische Bodentruppen auch in den Süden des Nachbarlandes vordrangen. „Wir haben nicht gedacht, auch nicht zu einem Prozent, dass die Gefangennahme zu diesem Zeitpunkt und in diesem Ausmaß zu einem Krieg führen würde“, sagte Hassan Nasrallah später.

Nun könnte der Angriff und die zwölf toten Kinder und Jugendlichen von Madschdal Schams ein ähnlicher Wegpunkt sein. Seit dem 7. Oktober warten Millionen Libanesen voller Angst, ob der Krieg auch auf ihr Land übergreifen könnte. Sie schauen der Eskalation genauso machtlos zu wie ihre gewählte Regierung, die die USA am Sonntag aufforderte, mäßigend auf Israel einzuwirken. Die Vereinigten Staaten wiederum gaben dem libanesischen Außenminister Abdallah Bou Habib auf, auf die Hisbollah einzuwirken. Die ist in Libanon aber längst ein eigener Staat, der sich an keine Anweisungen hält, außer sie kommen aus Teheran. Der Sprecher des iranischen Außenministeriums, Nasser Kanaani, erklärte, dass „jede ignorante Handlung des zionistischen Regimes zu einer Instabilität, Unsicherheit und Krieg in der Region führen“ würde. Die Hisbollah selbst bestritt am Sonntag, für den Angriff verantwortlich zu sein, vielmehr habe eine israelische Luftabwehrrakete den Fußballplatz getroffen. US-Geheimdienstmitarbeiter haben jedoch keine Zweifel daran, dass die Hisbollah die Rakete abgefeuert hat, berichtet die Nachrichtenagentur AP.

Der Leiter der UN-Friedenstruppe in Libanon (Unifil), Aroldo Lázaro, warnte, die Intensivierung der Feuergefechte „könnte einen größeren Flächenbrand auslösen, der die gesamte Region in eine unvorstellbare Katastrophe stürzen würde“. Länder wie die USA, Saudi-Arabien und Deutschland haben ihre Staatsbürger schon vor Wochen zum Verlassen des Landes aufgefordert. Jetzt werden noch mehr Ausländer Libanon verlassen, mitten in der so wichtigen Sommersaison, die Milliarden Dollar an Devisen in das von Wirtschaftskrisen gebeutelte Land bringt.

Der Hisbollah ist das gleichgültig. Sie verfügt über Zehntausende Raketen mit teils großer Reichweite und Präzision. Experten schätzen, dass die Terrorgruppe in den ersten zwei Monaten eines Kriegs mit Israel jeden Tag mindestens 1000 Raketen abfeuern könnte, auch auf Haifa, Tel Aviv und Jerusalem. Es ist eine Feuerkraft, die auch das Abwehrsystem Iron Dome überfordern könnte.

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