Israel: Hinter der Mauer (1):Dorf der Dornen

Niilin im Westjordanland ist berüchtigt: Hier ist der Widerstand gegen Israels Mauer, die auch im Wahlkampf eine Rolle spielt, besonders hartnäckig - und könnte weiter wachsen.

Steffen Heinzelmann

Am Dienstag wählt Israel ein neues Parlament. Die Entscheidung der Israelis bestimmt auch über das Leben von vier Millionen Menschen, die nicht wählen: Die Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen. Ob Sicherheitsfragen, Trennungspolitik oder Siedlungspläne - die Folgen spüren sie jeden Tag an Straßenblockaden, vor Mauern, bei Sicherheitskontrollen. Ein Blick hinter die Mauer, die das Heilige Land trennt. Die erste Reportage einer dreiteiligen Serie.

Israel: Hinter der Mauer (1): Tränengas gegen die Demonstranten: Die Palästinenser suchen Schutz vor den Geschossen der israelischen Armee.

Tränengas gegen die Demonstranten: Die Palästinenser suchen Schutz vor den Geschossen der israelischen Armee.

(Foto: Foto: AP)

Es ist eine seltsame Reihe von Helden, die im Gemeindezentrum von Niilin verehrt wird. Den Raum mit den zwei Tischtennisplatten schmückt ein Poster mit dem brasilianischen Fußballer Ronaldo.

Daneben an der Wand hängen Bilder von Jassir Arafat, Saddam Hussein und Scheich Ahmed Jassin, dem Gründer der radikalislamischen Hamas.

Und ein Plakat zeigt einen jungen Mann: Es ist Arafat al-Khawaja, 22. Student. Tot. Märtyrer. Israelische Soldaten erschossen ihn bei einer Demonstration in Niilin Ende Dezember. Er ist der vierte tote Junge aus der Stadt in diesem Jahr, der jüngste von ihnen war nur zehn Jahre alt.

Niilin im Westjordanland ist berüchtigt. Denn Niilin wehrt sich. Im Mai 2008 begann Israel auch dort mit dem Bau der Mauer, die das Heilige Land trennt. Seitdem rebellieren die Menschen hier in dem Dorf mit dem stacheligen Kaktus im Gemeindewappen, denn die Mauer wird das Ortsgebiet durchschneiden, ein Drittel des Ackerlandes geht verloren.

Über dem staubigen Dorfplatz flattert die grüne Fahne der Hamas neben der Flagge von Fatah. Koranverse schallen von einem der Türme. Mittagsgebet. Hindi Milah, 26, nimmt den Weg hoch auf den Hügel mit der Moschee. In der Ferne erspäht er von dort aus die Hochhäuser von Tel Aviv und sogar das Mittelmeer. Unten, zu seinen Füßen, liegt das Grab von Arafat al-Khawaja. "Israel will uns hinauswerfen", sagt der Mann mit dem roten Kapuzenpullover. "Wir Palästinenser liegen am Boden und können uns gegen die Übermacht kaum wehren. Uns kann nur internationaler Beistand retten."

Milah ist zum Filmstudium nach Bethlehem gegangen, jetzt organisiert er mit Freunden den Widerstand in Niilin. Gewaltfreien Widerstand, sagte er. Nach dem Freitagsgebet Proteste auf der Straße. Und virtuell mit einer Gruppe bei Facebook.

Ruhig erzählt Milah von den Demonstrationen, an denen sich auch israelische Menschenrechtsgruppen beteiligen. Immer wieder kommt es zu Kämpfen, Verletzten. Der Streit entzündet sich meist im Olivenhain südlich der Stadt, nicht weit von der Mauerbaustelle. Für die 5000 Einwohner in Niilin ist es Land, auf dem sie Oliven von Jahrzehnte alten Bäumen ernten. Für die israelische Armee ist es Sperrgebiet.

Auch an diesem Tag, als Milah gerade einige der Tränengaspatronen und Gummigeschosse zeigt, die zwischen Bäumen und Kakteen auf ihn und seine Freunde geprasselt sind: Ein Jeep mit israelischen Soldaten rückt an, drängt, schimpft auf Arabisch.

Einer aus Niilin wirft einen Stein, die Soldaten feuern zurück: Ein, zwei, drei Kartuschen mit Tränengas zischen bis in den Ort hinein, den Flüchtenden hinterher, die Rauchschwaden umhüllen den Gemüselaster an der ersten Straßenecke. Wahrscheinlich passiert es so hundertfach entlang der Mauer, angefangen haben will keiner.

Die israelische Trennwand zum Westjordanland, die jetzt schon mehr als 700 Kilometer lang ist, wird aus dem Palästinensergebiet etwa zehn Prozent Gelände schneiden, beklagen die Vereinten Nationen. Auf Karten gleicht das Westjordanland bereits jetzt einem Flickenteppich, eingeteilt in A-, B- und C-Gebiete: Nur die Hälfte des Landes, meist die wie Inseln verstreuten Städte und Dörfer liegen als Zonen A und B unter palästinensischer Kontrolle.

Das C-Land, also die Schneise um Jerusalem, die Landstraßen, die jüdischen Siedlungen und das Jordantal beherrscht Israel, kontrolliert dort Sicherheit, Baugenehmigungen, Wasserverteilung.

Die Mauer und Einreiseverbote verschärfen die Zweiteilung zwischen Israelis und Palästinensern. Deshalb erzählen manche Israelis in den Cafés von Tel Aviv: "Mein Kind wächst auf, ohne jemals einen Palästinenser gesehen zu haben - außer im Fernsehen."

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Dorf der Dornen

Kriegerisch und ungerecht empfindet das Jimmy Johnson. Schalom und Sadaqa, die hebräischen Worte für Friede und Gerechtigkeit, hat er sich deshalb auf seine Hände tätowieren lassen. Johnson ist 31, Jude aus Detroit. Für die israelische Menschenrechtsorganisation ICAHD beobachtet und dokumentiert er Häuserzerstörungen und Landnahme im Westjordanland.

Israel: Hinter der Mauer (1): Das Westjordanland - zum Vergrößern bitte hier klicken.

Das Westjordanland - zum Vergrößern bitte hier klicken.

(Foto: Grafik: SZ)

Die Mauer habe doch keinen Sinn, sagt Johnson, während er auf der Jericho Street in Ostjerusalem vor dem Lebensmittelladen Al-Hilal steht. Die Mauer, die hier hoch wie vier Männer ist und die Straße quer versperrt, halte keine Selbstmordattentäter auf.

Hier, an dieser ruhig gestellten Kreuzung Jerusalems, trenne der Wall nur Palästinenser auf der einen von Palästinensern auf der anderen Seite, sagt Johnson. Die Mauer sei sinnlose Schikane, verwehre nur friedlichen Menschen draußen den Weg in die Stadt. "Du gräbst doch keinen Tunnel, um im Zentrum von Jerusalem einzukaufen", sagt Johnson.

Doch nicht nur die Mauer sieht Johnson als Instrument Israels, um Land zu besetzen: Nicht weniger wichtig sind israelische Siedlungen im Westjordanland. Entscheidend seien dabei weniger die Häuserblocks voller religiöser Familien wie Maale Hazeitim mitten in Ostjerusalem, betont Johnson, "die meisten Israelis finden die Leute doch auch eher komisch".

Entscheidend sei, dem Mittelstand Städte wie Maale Adumim schmackhaft zu machen. 50.000 Israelis leben dort, auf Palästinensergebiet östlich von Jerusalem. Hier beginnt die Wüste Negev, doch Maale Adumim ist dank künstlicher Bewässerung wie eine Oase, grün, mit einem Springbrunnen in Form einer weißen Taube am Eingang und einer eigenen Library of Peace.

Parks und ein Einkaufszentrum, Kindergärten und subventionierte Mieten locken hierher, sagt Johnson. Anschläge, Kontrollen - das sei fern, erklärt er und setzt seine Brille wieder auf. "Man kommt durch den Checkpoint am Stadtrand, wenn man harmlos aussieht und auf Hebräisch 'Guten Morgen' sagt."

Maale Adumim wirkt sicher, liberal. "Das führt dazu, dass hier Freunde von mir leben, die gegen eine Besetzung der Palästinensergebiete sind - und gleichzeitig hier als Besatzer leben", sagt Johnson und lacht kurz.

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