Israel: Hinter der Mauer (2):Wie im Käfig

Eine Schnellstraße, die viele bremst: Die 443 zwischen Lod und Jerusalem schneidet viele Palästinenser vom Leben ab. Nach Israel kommt, wer eine Arbeitserlaubnis hat - oder ein Schlupfloch kennt.

S. Heinzelmann

Am Dienstag wählt Israel ein neues Parlament. Die Entscheidung der Israelis bestimmt auch über das Leben von vier Millionen Menschen, die nicht wählen: Die Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen. Ob Sicherheitsfragen, Trennungspolitik oder Siedlungspläne - die Folgen spüren sie jeden Tag an Straßenblockaden, vor Mauern, bei Sicherheitskontrollen. Ein Blick hinter die Mauer, die das Heilige Land trennt. Die zweite Reportage einer dreiteiligen Serie.

Israel: Hinter der Mauer (2): Für Vögel stellt die Mauer im Westjordanland kein Hindernis dar, für die Kinder aus Al-Tirah aber schon. Sie müssen durch einen Tunnel kriechen, wenn sie zur Schule wollen.

Für Vögel stellt die Mauer im Westjordanland kein Hindernis dar, für die Kinder aus Al-Tirah aber schon. Sie müssen durch einen Tunnel kriechen, wenn sie zur Schule wollen.

(Foto: Foto: dpa)

Der Schulweg für die Kinder aus Al-Tirah führt jeden Morgen durch ein Loch. Das unter der Schnellstraße 443.

Den betonierten, niedrigen Tunnel teilen sich Amir, Hischam und die anderen mit einer Rinne für Abwasser. Denn für die Kinder aus dem Dorf im Westjordanland ist es der einzige Weg in die Schule. Der flache Bau aus Kalksandstein ist fast völlig umschlossen: In drei Richtungen versperrt den Weg die riesige Mauer, die sich durch das ganze Heilige Land zieht. Auf der vierten Seite rauschen hinter einem Stacheldrahtzaun Autos die Straße 443 entlang.

Rektor Ahmed Abu Baker steht auf dem staubigen Fußballplatz vor der Schule. Schaut den Kindern zu. Noch kommen 250 Jungen und Mädchen hierher zum Lernen, doch früher waren es doppelt so viele. "Vertreiben lassen", sagt Abu Baker, "wollen wir uns hier aber nicht."

Deshalb haben sie wie Maulwürfe einen Durchgang gegraben, jeden Morgen steigen die Schüler den Abhang hinab, schlängeln sich durch die Büsche bis zum Tunnel. Auf die Straße dürften sie nicht, sagt Abu Baker. "Die israelischen Soldaten kommen immer wieder vorbei und greifen sich Kinder, weil diese mit Steinen auf Autos geworfen haben sollen." 24 Stunden am Tag wird die Schule mit Kameras überwacht.

Reine Vorsichtsmaßnahme, heißt es. Denn hinter der Mauer liegt die jüdische Siedlung Beit Horon, und auf der Straße fahren israelische Autofahrer, einige Zehntausende am Tag. 28 Kilometer lang führt die 443 vierspurig von Lod bei Tel Aviv nach Jerusalem. Die Hälfte der Strecke führt durch die Hügel des Westjordanlands.

In den achtziger Jahren wurden beim Ausbau palästinensische Dörfer geteilt, Olivenwäldchen plattgewalzt. Den Anrainern versprach die Regierung damals einen schnellen Weg nach Jerusalem und Ramallah. Doch seit sieben Jahren, seit Beginn der zweiten Intifada, hat die israelische Armee die Straße für Palästinenser praktisch gesperrt.

Zur Schule, auf Märkte oder in die nächste Krankenstation kommen Tausende Menschen aus Orten am Straßenrand nur noch über Umwege. Untendurch, weit außen herum, denn Betonblöcke und Zäune versperren die alten Auffahrten auf die 443.

"Sippenhaft für alle Palästinenser"

Die Palästinenser brauchen eine Stunde bis nach Jerusalem, die Siedler zehn Minuten. Denn auf die Schnellstraße dürfen nur Autos mit gelben Nummernschildern der Israelis, darüber wachen Soldaten am Kontrollposten Makkabim, nur wenige Minuten weiter westlich der Schule von al-Tirah.

Eine Sippenhaft für alle Palästinenser nennen das israelische Menschenrechtsgruppen wie B'Tselem oder ACRI. Und doch scheint diese Schnellstraße, die viele bremst, typisch für alltägliche Hindernisse im Westjordanland. Schmerzhafte Gemeinheiten, die auch Hekmat Naji kennt: Von mehr als 500 israelischen Checkpoints im Palästinensergebiet erzählt die Frau mit dem grünen Kopftuch, von Dörfern, in denen nur eine Einfahrtsstraße offen gelassen wird, die sich ganz schnell mit einem Panzer der Armee abriegeln lässt.

Naji arbeitet für die Hilfsorganisation Medico International, die hier zusammen mit der Europäischen Kommission mobile Kliniken unterstützt: Der Weg ins Krankenhaus nach Ramallah raubt Zeit und Kraft, die Ärzte des freiwilligen Gesundheitsdienstes PMRS fahren deshalb mit einem Kleinbus jeden Tag in einen anderen Ort des Westjordanlands, behandeln Infektionen, Kinderkrankheiten, Schnittwunden, beraten Schwangere.

Für manchen Kranken in dem Ort Beit Sira sind sie die einzige Hoffnung auf Genesung. Der 3000-Einwohner-Flecken liegt ganz dicht an der Mauer und am Checkpoint Makkabim. Auf den Plastikstühlen vor der Moschee sitzen Männer, grau der Bart, gebräunt die Haut. "Normalerweise freut man sich doch über eine neu gebaute Straße", ruft einer, "für uns bedeutet sie aber die Hölle".

Mannshohe Steinwälle sind zu überwinden

Nicht nur die Bewohner von Al-Tirah, auch die Menschen in Beit Sira fühlen sich umzingelt. Der Weg zur Arbeit hinaus führt morgens vor Sonnenaufgang über zwei mannshohe Steinwälle, mit denen die frühere Ausfahrt auf die 443 blockiert ist. Nachdem sie darüber gestiegen sind, harren die Männer zwei bis drei Stunden in einer Schlange am Checkpoint Makkabim aus, warten in der Schlange vor dem Drehkreuz. Und steigen auf der anderen Seite der Kontrolle in Autos von Israelis aus nahe gelegenen Städten wie Modiin. Dort bauen sie Häuser, reparieren Motoren, wenn sie eine Arbeitserlaubnis für Israel haben.

Baha Musa, 19, ist an diesem sonnigen Nachmittag schon früher zurück als die anderen. Dem Engpass Makkabim ist er ausgewichen, auf einem Schleichweg irgendwo hinter den ockerfarbenen Felsen. Der blasse Palästinenser mit der Narbe auf der Wange hat keine Erlaubnis, die Stadt zu verlassen.

Jetzt wartet er mit seinen Freunden, einer trägt eine Wollmütze vom FC Barcelona, aus seinem Kleinbus klingt laut ägyptischer Rap. Die Freunde spielen Fuhrunternehmer, fahren Dorfbewohner ohne Auto von den Steinhaufen nach Hause. Ihre Arbeit. Raus kommt, wer eine Arbeitserlaubnis hat. Oder, wer eines der Schlupflöcher im Zaun kennt. Ein Loch raus nach Israel.

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