Israel:Heftiger Beschuss aus Gaza

Israel: Nicht alle Raketen aus Gaza wurden vom „Iron Dome“-System abgefangen. Dieses Haus in der Stadt Netivot wurde getroffen.

Nicht alle Raketen aus Gaza wurden vom „Iron Dome“-System abgefangen. Dieses Haus in der Stadt Netivot wurde getroffen.

(Foto: Mehanem Kahana/AFP)

Nach der gezielten Tötung eines Kommandeurs überzieht die Gruppe "Islamischer Dschihad" Israel mit einem Raketenhagel. In der Krisensituation zeigen sich sogar politische Kontrahenten einig.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

Es war zwei Minuten nach acht am Dienstagmorgen, als die Sirenen in Tel Aviv heulten und die Menschen aufgefordert waren, in die Bunker zu gehen. Davor waren schon Alarmmeldungen aus dem benachbarten Holon zu vernehmen gewesen. Dann waren auch in Tel Aviv zischende Explosionen zu hören: Solche Geräusche gibt es, wenn das Raketenabwehrsystem Iron Dome, die Eisenkuppel, aktiv wird und eines ihrer Abwehrgeschosse schießt.

Eltern, die gerade ein Kind zu einer der drei Schulen in der Yefet-Straße im Stadtteil Yafo gebracht hatten, eilten zurück und holten den Nachwuchs wieder ab; auch in Tel Aviv wurden erstmals nach Ende des Gazakriegs 2014 die Schulen wegen Luftalarms geschlossen. Mehr als eine Million Kinder und Jugendliche sowie Lehrer waren von den Schulschließungen in allen Orten zwischen dem Gazastreifen und der Mittelmeer-Metropole betroffen.

Erstmals seit fünf Jahren wurde der öffentliche Verkehr in Tel Aviv eingestellt, Bunker wurden geöffnet. Viele Cafés blieben zu, nur einzelne Geschäfte sperrten auf. Am Dienstagvormittag waren nur wenige Menschen auf der Straße, es herrschte ungewöhnliche Ruhe - zumindest für einige Stunden. Erst kurz nach zehn Uhr wurde die Aufforderung aufgehoben, zu Hause zu bleiben und nicht zur Arbeit zu gehen.

Während sich in Tel Aviv das Leben normalisierte, dauerte der Raketenbeschuss in den näher am palästinensischen Gazastreifen gelegenen Orten an. 190 Geschosse wurden bis zum frühen Abend abgefeuert, Dutzende davon abgefangen. Drei Häuser und Fahrzeuge in der Nähe des Gazastreifens sowie eine Schnellstraße bei Beer Tuvia wurden von Raketen getroffen, mehrere Menschen verletzt.

Premier Netanjahu bezeichnet den getöteten Kommandeur als "tickende Zeitbombe"

Die Geschosse waren die Vergeltung des Islamischen Dschihad für die Tötung ihres Kommandanten Baha Abu al-Ata. Der 42-jährige Anführer der Al-Quds-Brigaden im Nord-Gazastreifen war gegen vier Uhr früh im Schlaf getötet worden. Er soll bereits drei Tötungsversuche überlebt haben, den letzten davon 2014. Laut palästinensischen Angaben kam auch seine Frau um. Zwei ihrer Kinder sollen bei dem israelischen Luftangriff auf das Haus im dicht bebauten Viertel Shejaiya im Osten von Gaza-Stadt verletzt worden sein.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beschrieb al-Ata nach einem Treffen mit Armeevertretern als "Drahtzieher des Terrorismus" und "tickende Zeitbombe". Der Angriff sei notwendig gewesen, weil al-Ata neue Schläge geplant habe. Zuvor hatte ein Armeesprecher betont, Israel werde nicht zur Politik gezielter Tötungen zurückkehren, es handle sich um einen Einzelfall.

Netanjahu wirkte bei seinem Auftritt im Hauptquartier der Armee ruhig und besonnen. Israel sei nicht an einer Eskalation interessiert, beteuerte er. "Aber wir werden alles tun, um uns zu schützen. Das könnte einige Zeit dauern. Man braucht Durchhaltevermögen und einen kühlen Kopf." Die Militäraktion, die laut Netanjahu schon vor zehn Tagen vom Sicherheitskabinett genehmigt worden war, wurde an Netanjahus letztem Tag als kommissarischer Verteidigungsminister gestartet. Er übergab das Amt am Dienstagnachmittag an Naftali Bennett von der Partei Neue Rechte, der die bisherigen Reaktionen Israels nach Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen als zu lasch bezeichnet hatte. Als erste Amtshandlung hat Bennett eine 48-stündige Sondersituation für Gemeinden im Umkreis von 80 Kilometern vom Gazastreifen ausgerufen, was Jerusalem einschließt

Während einige Politiker hinter der Tötung von al-Ata einen Profilierungsversuch Netanjahus vermuteten, verteidigte sein Rivale Benny Gantz die Entscheidung. Nachdem Netanjahu beim erneuten Versuch, eine Koalition zu bilden, gescheitert war, ist Gantz am Zug. Der Chef des blau-weißen Bündnisses, das die Wahl Mitte September knapp gewonnen hatte, hat bis zum 20. November Zeit. Der Ex-Generalstabschef traf sich am Dienstag zu Beratungen mit Netanjahu. Präsident Reuven Rivlin appellierte an die Parteien, sich auf eine Einheitsregierung zu verständigen. "Es ist keine Zeit für Zank."

Die israelische Armee wolle keine Eskalation, sei aber darauf vorbereitet, versicherte Generalstabschef Aviv Kochavi. Bis zum Nachmittag wurden mehrere Ziele des Islamischen Dschihad bombardiert. Auch im Gazastreifen blieben Schulen geschlossen. Nach palästinensischen Angaben wurden neben al-Ata und seiner Ehefrau acht Menschen getötet und 45 verletzt. Laut israelischer Armee wurden zwei Anhänger des Islamischen Dschihad unter Beschuss genommen, als diese Raketen abfeuerten - einer soll getötet worden sein.

Die israelische Armee appellierte an die regierende Hamas, keinen größeren Konflikt zu suchen. Die radikalislamische Gruppe, die den Gazastreifen kontrolliert, erklärte, Israel sei verantwortlich für "alle Konsequenzen dieser Eskalation". Der Tod von al-Ata werde nicht ungestraft bleiben. Die Hamas wird wegen ihres seit Mai andauernden Waffenstillstandes vom Islamischen Dschihad unter Druck gesetzt. Die zweitgrößte Gruppe im Gazastreifen, die vom Iran unterstützt wird, feuerte in den vergangenen Monaten immer wieder einzelne Raketen auf Israel.

Der Islamische Dschihad sprach von einer "Kriegserklärung". Netanjahu habe "alle roten Linien überschritten". Die militante Organisation verwies darauf, dass es zwei koordinierte Angriffe gegeben habe. Laut Berichten syrischer Medien wurde am Dienstagmorgen das Haus eines Anführers des Islamischen Dschihad in Damaskus von israelischen Raketen getroffen.

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