In den Stunden nach der Tötung von Hamas-Anführer Jahia Sinwar durch israelische Soldaten richten sich die Blicke der Weltöffentlichkeit wieder auf einen Mann. Und das ist nicht US-Präsident Joe Biden, der am Freitag in Berlin dazu aufrief, das Ende des Organisators des Überfalls der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mit knapp 1200 Toten zum Anlass zu nehmen, einen Weg zum Frieden und zu einer besseren Zukunft in Gaza zu suchen. Ob es wirklich eine „konkrete Aussicht auf einen Waffenstillstand in Gaza, auf ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln der Hamas“ gibt, wie Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, liegt vor allem am israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu.
Der 74-Jährige entscheidet über die nächsten Schritte Israels – und damit auch, ob die Freilassung der Geiseln nun höchste Priorität erhält. Dies forderten deren Familien noch am späten Donnerstagabend: Der militärische Erfolg müsse für einen sofortigen Deal mit der Hamas genutzt werden. Die Angehörigen sind „zutiefst besorgt über das Schicksal der 101 Männer und Frauen, älterer Menschen und Kinder“, die seit mehr als einem Jahr festgehalten werden. Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass höchstens die Hälfte von ihnen noch lebt.
Es ist völlig offen, wer bei der Hamas künftig befehlen wird
Netanjahu beriet sich am Freitag in Tel Aviv mit Ministern seiner Regierung und Vertretern der Armee über die Chancen für eine Rückkehr der Geiseln und die Sicherheitslage. Bisher hat der Regierungschef noch nicht entschieden, welche Ziele in Iran er als Vergeltung für Teherans Angriff mit 180 Raketen attackieren wird. Auch wenn die USA aus Angst vor einer Eskalation davor warnen, Irans Atomanlagen oder die Ölindustrie zu bombardieren, fürchten Beobachter, die Tötung Sinwars könnte Netanjahu dazu verleiten, doch die Stätten zur Produktion von Atomwaffen zu attackieren.
Die Hamas bestätigte zwar am Freitag Sinwars Tod, aber es ist völlig offen, wer dessen Nachfolge antritt und wie viel Autorität dieser Mann haben wird. In israelischen Medien sind Analysen zu lesen, wonach die Befehlskette der Hamas zerstört sei und die Terrororganisation aus mindestens vier Gruppen bestehe. Israel könne mit diesen separat verhandeln. Als entsprechendes Angebot sehen manche die Aussage, die Netanjahu in seiner Videoerklärung zur Bekanntgabe der Tötung Sinwars machte: „Wer seine Waffen niederlegt und die Geiseln zurückgibt, dem werden wir es ermöglichen herauszukommen und zu überleben.“ Allerdings hatte er auch erklärt: „Unsere Aufgabe ist noch nicht erfüllt.“
Von einer Beruhigung der Kämpfe ist bisher nichts zu beobachten. Israels Armee setzte ihre Bodenoffensive in Libanon fort, während im Norden des Landes erneut die Sirenen heulten, weil die Hisbollah Raketen abfeuerte. Am Freitag kündigte die proiranische Miliz den Übergang „zu einer neuen und verschärften Phase der Konfrontation mit Israel“ an, wie die Nachrichtenagentur Reuters meldete. Auch Iran erklärte, der Geist des Widerstands werde durch Sinwars Tod gestärkt. Und am Freitagnachmittag erklärte auch Chalil al-Hajja, Mitglied im Politbüro der Hamas, dass die Geiseln erst zurückkehren würden, wenn die israelischen Truppen den Gazastreifen verlassen hätten.
Die Befreiung der Geiseln ist das letzte der Kriegsziele, die Netanjahu ausgerufen hat. Dennoch sind in Israel viele skeptisch, dass er dafür nun alles tun wird. Denn auch wenn Sinwars „Eliminierung“, wie die Israelis es formulieren, einen Erfolg für den Premier darstellt, ändert dies nichts an seinen innenpolitischen Zwängen. Er regiert mit zwei rechtsextremen Parteien, die mit dem Bruch der Koalition drohen, wenn es zu einem Deal mit der Hamas kommt. Er müsste angesichts seiner juristischen Probleme die Interessen des Landes über sein politisches Überleben stellen.
Dabei findet nicht nur die Tageszeitung Jedi’ot Acharonot, nun sei „die richtige Zeit für einen diplomatischen Zug“. Nicht nur die Armee sei bereit, den Krieg mit Hisbollah und Hamas zu beenden – man könne neben der Rückkehr der Geiseln auch eine Demilitarisierung Südlibanons fordern. Dass die Regierung endlich diplomatisch aktiv werden müsse, fordert auch das Massenblatt Israel Hayom: Sie müsse den Israelis und der Welt endlich sagen, welche Pläne sie für die Zukunft des Gazastreifens habe und wer etwa dort anstelle der Hamas regieren solle.
Nicht nur weil mindestens vier der Geiseln einen US-Pass haben, wird die Biden-Regierung weiter auf ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln dringen. John Kirby, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, sagte am Freitag, Sinwar sei „das Haupthindernis für einen Deal“ gewesen. Zögerlich war allerdings auch stets Netanjahu. Um diesen unter Druck zu setzen, schickt Biden nächste Woche Außenminister Antony Blinken in den Nahen Osten.