Es ist ein grausames Déjà-vu, wohin man auch blickt: Rund um den Gazastreifen treiben die Raketen der Hamas die dort lebenden Israelis erneut in die Schutzräume. Im palästinensischen Küstenstreifen selbst irren wieder Hunderttausende Vertriebene umher auf der Suche nach Schutz vor israelischen Angriffen. Gekämpft wird nicht mehr nur im Süden um Rafah, sondern plötzlich auch wieder mit Bodentruppen im Norden und im Zentrum. Der Krieg dreht sich im Kreis. Im achten Monat kann es einen Ausweg aus den Kämpfen in Endlosschleife wohl nur durch eine politische Lösung geben. Doch alle Pläne für den viel beschworenen Tag danach bleiben blockiert.
Die Frustration über diesen Kriegsverlauf wächst nicht nur im Ausland, wo der EU-Chefdiplomat Josep Borrell Israel am Mittwoch aufforderte, die Kämpfe in Rafah "unverzüglich" einzustellen. Andernfalls, so drohte er, würden die Beziehungen zu den europäischen Verbündeten ernsthaft Schaden nehmen. Auch in Israel selbst werden die Warnungen derer lauter, die ihre Armee im Treibsand von Gaza versinken sehen. Diese Stimmen kommen direkt aus dem Sicherheitsapparat - und Adressat ist die politische Führung des Landes, vornehmlich Premierminister Benjamin Netanjahu.
Netanjahu predigt seit Monaten von einem "totalen Sieg"
Von Kriegsbeginn an hatte die Armeeführung vergeblich darauf gedrungen, nicht nur militärische Ziele vorzugeben wie die Vernichtung der Hamas, sondern auch eine politische Exit-Strategie zu formulieren. Doch von Netanjahu ist bis heute dazu nichts zu hören außer der zum Mantra gewordenen Floskel vom "totalen Sieg". Seit Monaten predigt er, dass man nur "einen Schritt" davon entfernt sei. In Wahrheit jedoch ist der Krieg zu einem zermürbenden Katz-und-Maus-Spiel geworden. Wo auch immer sich die israelischen Bodentruppen zurückgezogen haben nach einer taktisch erfolgreichen Operation, taucht alsbald die Hamas wieder auf.
Deshalb mussten israelischen Bodentruppen in den vergangenen Tagen wieder zum Kampf um Dschabalia ausrücken - zum zweiten Mal, nachdem bereits im Januar triumphal verkündet worden war, die Hamas-Bataillone im nördlichen Gazastreifen seien zerrieben worden. In Zeitoun, einem Viertel von Gaza-Stadt im Zentrum des Küstenstreifens, sind die Truppen gerade schon zum dritten Mal im Einsatz.
"Hohe Armeekreise" würden aus ihrer Frustration keinen Hehl mehr machen
Als "Sisyphus-Aufgabe" wird einem israelischen TV-Bericht zufolge dieser Krieg inzwischen von Generalstabschef Herzi Halevi beschrieben. Die israelischen Medien sind in diesen Tagen voll mit Zitaten aus "hohen Armeekreisen", die aus ihrer Frustration keinen Hehl mehr machen. Sie erklären das "Machtvakuum" in Gaza dafür verantwortlich, dass die bisherigen militärischen Erfolge gegen die Hamas nirgends nachhaltig sind.
An Planspielen dazu, wie es in Gaza nach dem Ende des Hamas-Regimes weitergehen könnte, mangelt es nicht. Die US-Regierung hatte sehr früh ein Konzept vorgelegt für die Übernahme der Verantwortung durch die Palästinensische Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas, die derzeit allein im Westjordanland regiert. Vehement abgelehnt wurde das von Netanjahu, der in der Vereinigung der beiden palästinensischen Entitäten einen Schritt hin zu einem Palästinenserstaat witterte.
Die Entscheidung für eine Nachkriegsordnung könnte Netanjahus Koalition gefährden
Auch aus Netanjahus eigener Regierung heraus hatte es bereits im Januar einen Vorstoß in Richtung Nachkriegsordnung gegeben. Verteidigungsminister Joav Gallant wollte die Verwaltung in Gaza in die Hände lokaler Palästinenser legen, die Israel gegenüber nicht feindlich gesinnt seien. Er stellte sein Konzept auf einer viel beachteten Pressekonferenz öffentlich vor - und danach war nichts mehr davon zu hören bis zum Mittwochnachmittag. Da ging Gallant erneut in die Offensive. Live im TV erinnerte er an seinen Plan und forderte von Netanjahu ein öffentliches Bekenntnis dazu, dass Israel keine eigene Herrschaft über den Gazastreifen anstrebe.
Eine Diskussion über Gallants Pläne im Kabinett aber ist bis heute von Netanjahu konsequent verhindert worden. Der Premier weist alle Forderungen nach politischen Nachkriegsplänen mit dem Argument zurück, zuerst müsste die Hamas vernichtend geschlagen sein. Der wahre Grund dürfte jedoch darin liegen, dass die Entscheidung für eine Nachkriegsordnung seine Koalition gefährden würde.
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Teile der Regierung nämlich propagieren ungebremst den Plan, den Gazastreifen auf Dauer wieder zu besetzen und zu besiedeln. Untermauert haben sie diese Forderung in dieser Woche wieder mit einem Marsch im Grenzgebiet zum Unabhängigkeitstag. Als Redner trat dort nicht nur der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben-Gvir auf, sondern auch Kommunikationsminister Schlomo Karhi aus Netanjahus Likud-Partei.
Solange Netanjahu keine Entscheidung fällt, bleibt er politisch in der Balance. Militärisch aber zwingt er seine Armee in einen Kampf ohne klares strategisches Ziel und ohne Ausweg. Dass die von ihm zur Entscheidungsschlacht stilisierte Offensive in Rafah den entscheidenden Sieg über die Hamas bringt, glaubt jedenfalls kaum noch einer in Israel - und erst recht nicht unter den Verbündeten. US-Außenminister Antony Blinken hat gerade erst wieder deutlich vor den Gefahren gewarnt. Ohne klare Pläne für eine Nachkriegsordnung könne die Region nicht befriedet werden, warnt er: "Es wird ein Vakuum entstehen, das mit Chaos gefüllt wird und mit Anarchie."