Seit einem Vierteljahrhundert versucht Israel Mohammed Deif zu töten, den Anführer der Qassam-Brigaden, eines militärischen Arms der Terrorgruppe Hamas. Deif hat sie gegründet, aus einer Truppe von Militanten eine Art Armee gemacht. Er soll hinter vielen Bombenanschlägen auf Busse in Tel Aviv in den Neunzigerjahren stecken und gilt als einer der hauptverantwortlichen Planer für den Terror des 7. Oktober, die Angriffe der Hamas auf Israel, bei denen etwa 1200 Menschen starben. Der Chefankläger des Internationalen Gerichtshofs hat vor einigen Wochen einen Haftbefehl gegen Deif beantragt, die israelische Armee Flugblätter über Gaza abgeworfen, auf denen sie 100 000 Dollar für Hinweise anbietet, die zu seiner Entdeckung führen.
Am Samstag griff Israel ein Gebiet in Gaza an, das es selbst zur humanitären Zone erklärt hatte, etwa neunzig Menschen sollen nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde in Gaza getötet worden sein, mehr als 300 verletzt. Israel rechtfertigte den Angriff damit, dass es gesicherte Erkenntnis gehabt habe, dass sich Deif an diesem Ort befunden habe. Am Sonntagnachmittag berichtete Israels Armee, Deif sei getroffen worden, von seinem Tod war nicht die Rede. Doch nach den israelischen Angaben wurde einer der engsten Mitarbeiter Deifs bei dem Angriff getötet, der Kommandeur der Hamas-Brigade in Chan Yunis, Rafah Salameh. Er soll an der Planung des Terrorüberfalls auf Israel vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein. Die Hamas bestätigte Salamehs Tod nicht und dementierte, dass Deif tot sei, sie sagte, es seien nur Zivilisten ums Leben gekommen.
Für palästinensische Hamas-Kritiker hat Deif nicht als Blutvergießen erreicht
Dutzende Male hat Israel bereits versucht, Deif zu töten, der eigentlich Mohammed Diab Ibrahim al-Masri heißt, Deif ist im Arabischen der „Gast“, so nannte man den Hamas-Führer, der sich nie lange an einem Ort aufhält. Er soll auch dafür verantwortlich sein, dass sich die Terrorgruppe im Gazastreifen eingrub, ein Netzwerk von Hunderten Kilometer Tunnel schuf, von dem große Teile noch intakt sein dürften, und Deif selbst als Unterschlupf dienten.
Auch im Gaza-Krieg 2014 soll Israel versucht haben, ihn zu töten, traf aber damals offenbar nicht ihn, sondern seine Frau und zwei seiner kleinen Kinder. Ein anderes Mal soll Deif verwundet worden sein, womöglich ein Auge und eine Gliedmaße verloren haben; es gibt Bilder der israelischen Armee, die einen Rollstuhl zeigen, den Deif benutzt haben soll. Aber auch ein Foto, das israelische Medien Ende 2023 veröffentlichten – es zeigt einen Mann, der zumindest oberhalb der Schultern unversehrt scheint. Sollte er den Angriff am Samstag überlebt haben, wird sein Ruf bei vielen Palästinensern weiter wachsen, als einer der meistgesuchten Männer der arabischen Welt, den Israel nicht zu fassen bekommt. Für die Kritiker der Hamas unter den Palästinensern hat Deif nichts erreicht, außer noch mehr Blutvergießen.
Khalil al-Hayya, einer der Führer der Hamas, sagte im Interview mit dem arabischen Fernsehsender Al Jazeera, Deif sei nicht getötet worden und mache sich über die Israelis lustig, die es versucht hätten. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte am Samstag, es sei unklar, ob Deif getötet worden sei. „Aber so oder so werden wir jedes hochrangige Mitglied der Hamas erreichen.“ Deifs langjähriger Stellvertreter Marwan Issa wurde im März bei einem israelischen Luftangriff im Zentrum des Gazastreifens getötet.
Ein UN-Mitarbeiter spricht von „schrecklichen Szenen“ im Krankenhaus
Den Preis für den Angriff zahlen vor allem Zivilisten in der zur humanitären Zone erklärten Umgebung der Bombardierung. Die Verletzten wurden ins Nasser-Krankenhaus nach Chan Yunis gebracht, das schon vor dem Angriff kaum noch funktionsfähig war. „Die Luft war mit Blutgeruch erfüllt“, sagte Scott Anderson von den Vereinten Nationen nach einem Besuch. „Ich war Zeuge einiger der schrecklichsten Szenen, die ich in meinen neun Monaten in Gaza gesehen habe“, so Anderson am Sonntag in einer Erklärung. „Da es nicht genügend Betten, Hygieneausrüstung, Tücher oder Kittel gab, wurden viele Patienten ohne Desinfektionsmittel auf dem Boden behandelt.“
Die Regierung in Jerusalem setzt weiterhin auf mehr Druck
Der Angriff kam einen Tag, nachdem US-Präsident Biden gesagt hatte, dass die Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Gaza Fortschritte machen würden. Ob die Gespräche unter der Vermittlung der USA, Ägypten und Katar weitergehen, ist bislang unklar. Die Hamas wies Berichte zurück, sie werde sich zurückziehen nach dem Angriff auf einen ihrer Führer. Hamas-Führer Ismail Hanija warf Netanjahu am Samstag vor, mit „abscheulichen Massakern“ einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg verhindern zu wollen.
Er sagte, die Hamas habe eine „positive und verantwortungsvolle Reaktion“ auf neue Vorschläge für einen Waffenstillstand und einen Gefangenenaustausch gezeigt, aber „die israelische Position, die Netanjahu eingenommen hat, war, Hindernisse zu errichten, die eine Einigung verhindern“. Israels Regierung hingegen geht davon aus, dass die Angriffe den Druck auf die Hamas erhöhen würden, einem Waffenstillstand zuzustimmen.