Nahostkonflikt:"Überraschender ist der innerisraelische Konflikt"

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Arabische Israelis stellen etwa 20 Prozent der Bevölkerung Israels. In einigen Städten im Norden des Landes kommt es derzeit zu Zusammenstößen zwischen ihnen und radikalen Kräften der israelischen Rechten. (Foto: Ahmad Gharabli/AFP)

Dass es in Gaza zu Gewalt kommen würde, war absehbar, aber die Regierung Netanjahu hat den Zorn der arabischen Minderheit unterschätzt. Der Münchner Historiker Daniel Mahla erklärt, wie es dazu kam.

Interview von Oliver Klasen

Mehr als 2000 Raketen in sechs Tagen hat die islamistische Hamas vom Gazastreifen aus in Richtung Israel abgeschossen. Israels Armee reagiert, greift Ziele der Hamas in Gaza an, tötet gezielt Hamas-Führer und versucht, das Tunnelsystem der Terrorgruppe zu zerstören, das als "Stadt unter der Stadt" beschrieben wird. Der Konflikt droht sich zum Krieg auszuwachsen - und er ist nicht auf Gaza und die israelischen Orte nahe der Grenze zum Gazastreifen beschränkt. Der Historiker Daniel Mahla von der Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität erklärt, welche Rolle arabische Israelis in dem Konflikt spielen, wie sich die innenpolitische Situation in Israel darstellt und warum die Regierung von Benjamin Netanjahu kein Interesse an einer weiteren Eskalation haben dürfte.

SZ: Herr Mahla, die israelische Regierung kämpft derzeit im Grunde an zwei Fronten, zum einen mit der Hamas in Gaza, zum anderen mit der Ablehnung, die ihr von Seiten der arabischen Minderheit entgegenschlägt. Welcher Konflikt ist aus Ihrer Sicht gefährlicher?

Daniel Mahla: Für die Regierung Netanjahu sind beide Konflikte gefährlich, aber überraschender ist der innerisraelische Konflikt. Dass irgendwann wieder ein gewaltsamer Konflikt mit der Hamas in Gaza ausbrechen würde, war nach der Entwicklung der letzten Jahre klar. Aber die Situation der arabischen Israelis und das Konfliktpotenzial, das sich daraus ergibt, das wurde meines Erachtens nicht richtig eingeschätzt.

Warum nicht?

Netanjahu ist davon ausgegangen, dass bei den arabischen Israelis der Kampf um ethnisch-nationale Anerkennung ein wenig in den Hintergrund getreten und die ökonomische Gleichstellung gleichzeitig wichtiger geworden ist. Die wurde in Netanjahus Regierungszeit tatsächlich vorangetrieben. Viele arabischen Bürgern in Israel geht es wirtschaftlich besser als noch vor einigen Jahren.

Weil es unter Netanjahu über weite Strecken ein relativ hohes Wirtschaftswachstum gab.

Das einerseits. Und weil viele arabische Israelis einen Bildungsaufstieg genossen haben. Es gibt viele angesehene und gut bezahlte Berufszweige, in denen israelische Araber mittlerweile überrepräsentiert sind, zum Beispiel Apotheker.

Früher haben sich arabische Israelis im Land immer als Bürger zweiter Klasse gesehen. Ist das immer noch so?

Es kommt natürlich darauf an, wen Sie fragen. Die arabische Bevölkerung in Israel ist ja kein einheitlicher Block. Aber im Großen und Ganzen ist in dieser Gruppe schon eine Ambivalenz zu spüren.

Wie drückt sich die aus?

Einerseits ist man Teil der israelischen Gesellschaft, hat wirtschaftlich und individuell volle Rechte. Sie haben zum Beispiel arabische Israelis in fast allen politischen Parteien, auch im Likud, dem Netanjahu angehört. Andererseits gibt es Diskriminierung, etwa was den Landbesitz angeht oder die Entwicklung von Städten. Arabisch geprägte Städte in Israel erhalten weit weniger Mittel für ihre Infrastruktur. Das betrifft vor allem das sogenannte Dreieck südöstlich von Haifa, dem Teil von Israel, wo der Anteil der Araber an der Bevölkerung am höchsten ist.

Dazu kommt, dass sich die Araber in Israel von extrem rechten Gruppen auf der jüdischen Seite angestachelt fühlen. Das zeigt sich zum Beispiel in der Stadt Lod bei Tel Aviv, wo es zu heftigen Ausschreitungen zwischen beiden Gruppen gekommen ist.

Die Netanjahu-Regierung hat also die Solidarisierung der arabischen Minderheit im Land mit den Menschen in Gaza unterschätzt. Aber auf die Proteste in Ost-Jerusalem, wo mehrere palästinensische Familien ihre Häuser zugunsten jüdischer Siedler verlassen sollen, hätte sie doch vorbereitet sein müssen.

Das Problem liegt in der Wahrnehmung. Die Regierung Netanjahu und viele jüdische Israelis sehen den Konflikt in Scheich Dscharrah ( jenem Viertel in Ost-Jerusalem, wo die Konflikte um besonders deutlich zutage treten, Anm.d.Red.) primär als Real-Estate-Konflikt. Die Siedler sehen sich individuell im Recht und sie bekommen auch Recht von israelischen Gerichten. Für die arabische Seite hingegen geht es um viel mehr als die Rechte einzelner. Das hat einen viel höheren Symbolcharakter. Und die arabischen Israelis in anderen Teilen des Landes identifizieren sich mit den Palästinensern in Ost-Jerusalem, weil sie ihren eigenen sozialen Kampf da wiedererkennen.

Was den Kampf in Gaza angeht, kann die Regierung Netanjahu bei der jüdischen Bevölkerung auf breite Unterstützung zählen, selbst wenn sie mit Bodentruppen interveniert - oder gibt es auch Kritik?

Für jüdische Israelis ist völlig klar: Die Hamas ist eine Terrororganisation und Raketen sind kein legitimer Widerstand. Insofern sieht es für Netanjahu zunächst gut aus. Da tritt der typische rally-round-the-flag-Effekt ein, also dass ein Krieg erstmal der amtierenden Regierung hilft. Nichtsdestotrotz gibt es linke und liberale Gruppen, die deutliche Kritik an Israels Regierung äußern, die auch mit Gegendemonstrationen auf sich aufmerksam machen. Zwar sind diese Gruppen für Netanjahu nicht relevant. aber es ist bemerkenswert, dass es diese Proteste, anders als beispielsweise im Gaza-Krieg 2014, überhaupt gibt.

Daniel Mahla ist Historiker, hat in Berlin und Jerusalem studiert und wurde in New York mit einer Arbeit zu den politischen Kämpfen orthodoxer Juden promoviert. Seit April 2015 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der LMU München und Koordinator des dort ansässigen Zentrums für Israel-Studien. Er forscht und unterrichtet zu Themen der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. (Foto: privat)

Wie blicken die Menschen in Israel auf die Reaktionen aus dem Ausland, speziell aus Deutschland?

Wenn Antisemiten in deutschen Städten Parolen skandieren oder israelische Flaggen verbrennen, dann ist das in Israel immer ein großes Alarmzeichen. Aber es geht nicht nur um solche Gewaltakte, es fängt früher an. Der Mainstream des jüdischen Israel fühlt sich durch die Berichterstattung in europäischen Medien, nicht nur in Deutschland, einseitig beurteilt. Da heißt es zum Beispiel: Es tobt ein "Krieg zwischen Israel und der Hamas", oder die Formulierung lautet: "Es gibt Angriffe von der einen und von der anderen Seite". Da reagieren viele Israelis sehr sensibel. Aus ihrer Sicht ist ganz klar, wer angefangen hat und wer der Aggressor in diesem Konflikt ist.

Derzeit stehen die Zeichen auf Krieg. Gibt es aus Ihrer Sicht auch einen Grund zur Hoffnung, also gibt es eine Chance auf eine baldige Waffenruhe?

Die Situation gerade ist sehr labil und deshalb schwer vorauszusagen, aber sagen wir so, ich glaube nicht, dass die israelische Seite an weiterer Eskalation interessiert ist. Bei der Hamas mag das anders sein. Aber Israels Regierung war überrascht von der Härte, mit der die Islamisten vorgehen und sie war überrascht von der Menge an Raketen. Sie hat aus ihrer Sicht nun keine andere Wahl, als militärisch zu reagieren, aber es war nicht ihr Plan. Und Netanjahu ist eigentlich nicht als Kriegstreiber bekannt, er war ja lange Mr Security, auch wenn dieses Bild 2014 im Gaza-Krieg etwas gelitten hat. Meist hatte er eher mäßigend auf die Kräfte eingewirkt, die Bodentruppen nach Gaza schicken wollten. Aus Netanjahus Sicht liegt das nicht im Interesse Israels. Denn Bodentruppen bedeuten zwangsläufig mehr Opfer unter den eigenen Soldaten und sie werfen die Frage auf, wie und wann die Armee aus Gaza wieder herauskommt.

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