Süddeutsche Zeitung

Coronavirus in Israel:Geheimdienst soll Infizierte aufspüren

Premier Netanjahu hebelt die Demokratie aus, indem er Bewegungsprofile aus Handydaten erstellen lässt. Bereits am ersten Tag mussten 400 Menschen in Quarantäne. Die Opposition ist empört.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

Mit seiner Vorgehensweise im Kampf gegen das Corona-Virus setzt sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dem Vorwurf aus, die Gewaltenteilung auszuhebeln und den Geheimdiensten weitreichende Befugnisse zur Überwachung der Bevölkerung einzuräumen. Die Opposition und Bürgerrechtsgruppen haben sich an das Oberste Gericht gewandt, das eine Frist gesetzt hat: Bis Dienstagmittag müsse die Knesset einberufen und ein Parlamentsausschuss eingerichtet sein, der über die Massenüberwachung der Bürger entscheidet. Geschieht dies nicht, müsse diese Maßnahme, die Netanjahus Regierung ohne Einbindung des Parlaments beschlossen hat, gestoppt werden.

Netanjahu hatte am Donnerstag den Inlandsgeheimdienst Schin Bet damit beauftragt, Mobiltelefone zu kontrollieren und Bewegungsprofile zu erstellen, um eruieren zu können, wo sich Corona-Infizierte aufgehalten haben. 400 Menschen wurden am ersten Tag der Massenüberwachung in Quarantäne geschickt. Der Geheimdienst nutzt Methoden aus dem Anti-Terrorkampf - ohne vorherige richterliche Genehmigung.

Auch Staatspräsident Reuven Rivlin zeigt sich besorgt. Er forderte Parlamentspräsident Juli Edelstein auf, die Knesset einzuberufen: "Ein nicht funktionsfähiges Parlament schädigt die Möglichkeiten des Staates Israel, gut und verantwortungsvoll in einem Notstand zu agieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Krise, so ernst sie auch ist, unser demokratisches System beschädigt." Die 120 Abgeordneten waren am Montag in Dreier-Gruppen vereidigt worden. In der Nacht zuvor hatte Netanjahu die Massenüberwachung per Dekret verordnet.

Am Mittwoch hatte dann Netanjahus Parteifreund Edelstein die erste Sitzung der Knesset nach nur wenigen Minuten beendet und sich auf die wegen Corona verhängten Maßnahmen, die größere Ansammlungen verbieten, berufen. Edelstein verhinderte damit eine von der Opposition angekündigte Abstimmung, ihn als Parlamentspräsidenten zu ersetzen. Damit konnte auch nicht über die Ausschüsse abgestimmt werden, die die Arbeit der Regierung kontrollieren sollen. Oppositionsführer Benny Gantz sprach von "Aktionen, die Netanjahu und Edelstein anführen, um die Demokratie zu zerstören".

Seit dem Erlass von Notstandsverordnungen haben die Gerichte geschlossen

Netanjahu beauftragte außerdem den Auslandgeheimdienst Mossad mit der Beschaffung von Tests zur Bestimmung des Corona-Virus. 100 000 Sets wurden aus geheim gehaltenen Quellen im Ausland - angeblich auch aus einem arabischen Land - nach Israel gebracht. Ein Teil davon soll laut Einschätzung von Experten im Gesundheitsbereich allerdings nicht verwendbar sein.

Netanjahu führt seit Dezember 2018 eine Übergangsregierung, die eigentlich keine weit reichenden Entscheidungen treffen dürfte. Nach drei Wahlen binnen eines Jahres ist weiter keine stabile Regierung in Sicht. Netanjahu hat mit seiner Likud-Partei zwar die Wahl am 2. März gewonnen, er erhielt aber weniger Empfehlungen von Abgeordneten als Gantz zur Regierungsbildung. Präsident Rivlin vergab daraufhin Anfang dieser Woche an Gantz das Mandat. Gantz hat nun noch fünf Wochen Zeit, eine Koalition zu schmieden.

Netanjahu verweigert Gantz die Einbindung in die weitreichenden Entscheidungen mit der Begründung, er sei mit "Terrorunterstützern" in Kontakt. Damit meint Netanjahu Abgeordnete der arabischen Parteien, die die drittstärkste Kraft im Parlament wurden. Sie werden vor allem von arabischen Israelis gewählt, die ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen.

Netanjahu verhängte mit seiner Übergangsregierung Notstandsverordnungen, die unter anderem zur Folge haben, dass Justizminister Amir Ohana die Gerichte schließen ließ. Damit konnte auch der Korruptionsprozess gegen Netanjahu, der am Dienstag hätte stattfinden sollen, nicht beginnen. Zu den Verordnungen gehört auch eine vorerst bis Ende nächster Woche geltende Ausgangssperre, deren Einhaltung die Sicherheitskräfte rigoros durchsetzen. Auch die Armee wird immer stärker eingebunden.

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Dass das Parlament am Zusammentreten gehindert wird, ruft auch bei der Bevölkerung Kritik hervor. Weil Menschenansammlungen verboten sind, organisierten Israelis eine Demonstration mit Autos: Rund hundert Fahrzeuge fuhren am Donnerstag Richtung Sitz der Knesset in Jerusalem. Die Polizei versuchte, den Konvoi aufzulösen. Einige Demonstranten, die vor das Parlamentsgebäude marschierten, wurden festgenommen. Der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari warf Netanjahu auf Twitter vor, unter dem Vorwand der Corona-Bekämpfung eine Diktatur zu errichten.

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SZ vom 21.03.2020/cku
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