Nachdem Israel Dienstagnacht die Waffenruhe im Gazastreifen mit überraschenden Luftschlägen gebrochen hat, weitete die Armee am Mittwoch die Kämpfe aus. Die Regierung kündigte außerdem weitere Eskalationen an. Das Militär teilte mit, es habe mit Bodentruppen einen Korridor unter Kontrolle gebracht, der den Süden Gazas vom Norden trennt. Ziel sei es, dort eine Pufferzone zu schaffen. Nach palästinensischen Angaben seien bei den israelischen Attacken mindestens 20 Menschen ums Leben gekommen. In der Nacht zu Dienstag hatte es den Angaben zufolge mehr als 400 Tote gegeben.
Israels Marine griff außerdem mehrere Boote an und erklärte, von dort seien Anschläge geplant gewesen. Palästinenser berichteten, eine israelische Drohne habe auf mehrere Fischerboote vor Gaza-Stadt geschossen. Kutter seien dabei in Brand gesetzt worden. Laut Armee sei zudem ein Stützpunkt der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas angegriffen worden. Die UN beklagte zudem den Tod eines Mitarbeiters. Ein Sprecher des israelischen Außenministeriums wies jedoch die Verantwortung für Angriffe auf die UN-Einrichtung zurück.
Ein neuer Aufruf zur Flucht
Israels Armee forderte die Menschen in den Kampfgebieten auf, die Orte zu verlassen. Dazu wurden Berichten zufolge Flugblätter über Gebieten in Beit Hanun und Chan Junis im nördlichen und südlichen Gazastreifen abgeworfen. „Wenn Sie in den Schutzräumen oder den Zelten bleiben, gefährden Sie Ihr Leben und das Ihrer Familienmitglieder“, habe etwa auf einem Flugblatt in Beit Hanun gestanden. Bereits am Dienstag hatte die Armee Zivilisten aufgefordert, Gebiete im Osten des Gazastreifens zu verlassen.
In einer Videoansprache wandte sich der israelische Verteidigungsminister, Israel Katz, an die palästinensische Bevölkerung: Die jüngsten Angriffe auf Ziele der Hamas seien nur der erste Schritt gewesen. Was nun folge, sei viel schlimmer, sagte Katz, ohne Details zu nennen: „Sie werden den vollen Preis zahlen“. Er forderte: „Lassen Sie die Geiseln frei und vertreiben Sie die Hamas, dann eröffnen sich Ihnen andere Möglichkeiten.“ Als Beispiel nannte er die Auswanderung in andere Länder. „Die Alternative ist die völlige Verwüstung.“ Dies sei eine „letzten Warnung“.
Der Küstenstreifen im Süden Israels ist bereits jetzt größtenteils zerstört. Mehr als 48.000 Menschen sollen palästinensischen Angaben zufolge getötet worden sein, seit der Krieg infolge eines Angriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 begonnen hatte. Damals wurden nach israelischen Angaben mehr als 1200 Menschen getötet und mehr als 250 entführt.
Vor zwei Monaten hatten sich Israel und Hamas unter Vermittlung der USA auf eine mehrstufige Waffenruhe verständigt, bei der unter anderem Geiseln gegen palästinensische Gefängnisinsassen ausgetauscht wurden. Nach Ablauf von sechs Wochen sollte ein Abzug israelischer Truppen aus dem Gazastreifen folgen und die Freigabe weiterer Geiseln. Doch dazu kam es nicht, Israel forderte stattdessen eine Übergangsphase, in der zwar weitere Geiseln entlassen werden sollten, die Armee aber in Gaza präsent bleibe. Der Staat ließ zudem Hilfslieferungen sowie die Elektrizitätsversorgung in Gaza unterbinden. Die Hamas lehnte dennoch ab.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte bereits am Dienstag erklärt, ab jetzt würden weitere Verhandlungen „unter Feuer stattfinden“. Von der Hamas hieß es, „sie habe die Tür zu Verhandlungen nicht geschlossen“. Die USA billigten bislang die israelischen Militärschläge.
Am Mittwoch kündigte Netanjahu zusätzlich an, dass sich im von Palästinensern bewohnten Westjordanland ebenfalls „eine größere und mächtigere Front“ bilden könne. In den vergangenen Wochen hatte es auch in diesem von Israel besetzten Gebiet größere Anti-Terror-Operationen in Flüchtlingslagern gegeben, etwa in der Städten Dschenin oder Tulkarem. Hierbei wurden Straßenzüge und Gebäude zerstört, nach palästinensischen Angaben seien bereits Zehntausende Menschen vertrieben worden.
Die militärische Eskalation fällt zusammen mit massiven Protesten gegen die israelische Regierung. Am Mittwoch waren in Jerusalem und Tel Aviv Tausende Israelis auf die Straße gegangen, um gegen den Plan Netanjahus zu protestieren, den Chef des Inlandsgeheimdienstes, Ronen Bar, zu entlassen. Der Geheimdienst ermittelt aktuell gegen Netanjahus Mitarbeiter wegen möglicher Verstrickungen mit Katar. Der Staat gilt als wichtiger Unterstützer der Hamas.

Viele der Menschen, die gegen einen zunehmend autoritären Kurs Netanjahus protestieren, verurteilten auch die Wiederaufnahme der Kämpfe in Gaza. Sie sehen darin die Gefahr, dass die 24 Geiseln, die wohl noch am Leben sind, sowie die Körper von 35 Toten nicht mehr nach Israel zurückgebracht werden könnten.
Der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, kehrte unterdessen in sein Amt zurück. Er war gemeinsam mit seiner Partei als Reaktion auf das Waffenruhe-Abkommen im Januar aus der Regierung ausgetreten. Nach der Offensive in Gaza erklärte er seinen Wiedereintritt. Damit verhilft er Netanjahus Haushalt nun zu einer stabilen Mehrheit.
Dass die neuen Angriffe in Gaza mit so großer Härte geführt werden, ist auch einem Wechsel an der Spitze des israelischen Militärs zuzuschreiben. Dort hat kürzlich erst Eyal Zamir die Leitung übernommen und eine Änderung der Taktik in Gaza angekündigt, sollte der Krieg fortgesetzt werden: mit Bodentruppen und höherer Aggressivität. Zudem verschafft die Beruhigung an der libanesischen Grenze der Armee mehr Spielraum, Soldaten und Gerät nach Gaza zu schicken.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das in Gaza tätig ist, schrieb in einer Mitteilung, dass seine Mitarbeiter seit Beginn der Angriffe „eine große Zahl von Patienten, von denen viele schwer verletzt sind, lebensrettend behandeln“. Das Gesundheitssystem in Gaza sei zerstört, die humanitäre Lage schwierig. „Seit zwei Monaten können wir Babys entbinden, ohne dass Explosionen zu hören sind“, sagte Fred Oola, der Leiter des Feldkrankenhauses des Roten Kreuzes: „Die Menschen haben Angst und sind wieder gezwungen, nur daran zu denken, die nächsten Stunden zu überleben.“