Der Rückzug von Benny Gantz aus dem Kriegskabinett wirbelt Israels Innenpolitik durcheinander. Die praktischen Konsequenzen mögen fürs Erste gering sein, weil die rechts-religiöse Koalition von Premierminister Benjamin Netanjahu weiter über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Aber zusätzlich zur äußeren Bedrohung durch die Hamas in Gaza und die Hisbollah in Libanon wird das Land nun einer inneren Zerreißprobe ausgesetzt. Es geht dabei um Krieg und Frieden – vor allem aber darum, wie lange Netanjahu sich noch an der Macht halten kann.
Einen patriotischen Appell hat der Regierungschef seinem scheidenden Partner gleich nach dessen Rücktritt hinterhergerufen. „Benny, das ist nicht die richtige Zeit, den Kampf aufzugeben“, schrieb Netanjahu auf der Plattform X. „Israel befindet sich an mehreren Fronten in einem existenziellen Krieg.“ Er plädierte für die Einheit der Nation und versicherte: „Die Tür bleibt weiter offen für jede zionistische Partei, die beim Sieg über unsere Feinde helfen will.“
Netanjahu will Gantz in den Ruch des Verrats stellen
Netanjahu geht es dabei kaum um eine Rückkehr von Gantz. Schließlich hätte er ihn halten können, wenn er sich wenigstens gesprächsbereit gezeigt hätte angesichts des von ihm gestellten Ultimatums zur Änderung des Kriegskurses. Vielmehr will er Gantz in den Ruch des Verrats stellen – und zugleich die rechtsextremen Koalitionspartner in Schach halten, von denen er nun noch abhängiger ist als zuvor.
Der Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir hat keine Zeit verstreichen lassen, um sogleich seinen Anspruch auf einen Platz im Kriegskabinett zu erheben. In einem öffentlich gemachten Brief an Netanjahu warb er für sich mit den Worten, es sei „an der Zeit, mutige Entscheidungen zu treffen“. Allerdings ist kaum zu erwarten, dass Netanjahu den berüchtigten Scharfmacher befördert. Wahrscheinlicher ist, dass er das gesamte Kriegskabinett auflöst, das nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober als Triumvirat aus ihm, Gantz und Verteidigungsminister Joav Gallant gebildet worden war. Die Entscheidungen dürften dann, wie schon in früheren Kriegen, in einer Art Küchenkabinett getroffen werden, in dem Netanjahu seine Vertrauensleute zu versammeln pflegt.
In eine Schlüsselrolle in der innenpolitischen Auseinandersetzung könnte nun Verteidigungsminister Gallant geraten. Wie Netanjahu gehört er der Likud-Partei an. In der Einschätzung der aktuellen Lage – von der Notwendigkeit eines neuen Geiselabkommens bis hin zur Frage der Nachkriegsordnung für Gaza – steht er jedoch wesentlich näher bei Gantz, mit dem ihn überdies eine jahrzehntelange gemeinsame Armeekarriere verbindet.
Der Austritt aus dem Kabinett hat auch für die USA Konsequenzen
Gleich in seiner Abschiedsrede hat Gantz sich direkt an Gallant gewandt. Er lobte ihn als „mutigen Anführer“ und als „Patrioten“ – und forderte ihn fast unverhohlen zum Bruch mit Netanjahu auf: „Führung und Mut bedeuten in der jetzigen Zeit nicht nur zu sagen, was richtig ist, sondern auch zu tun, was richtig ist.“ Dahinter steckt die Hoffnung, eine so große Lücke in den Likud zu reißen, dass die Mehrheit von derzeit noch 64 der 120 Knesset-Sitze verloren geht und damit eine Neuwahl möglich wird.
Wichtiger noch als die Spaltung des Regierungslagers wird es jedoch für Gantz sein, sich in ein geschlossenes Oppositionsbündnis einzureihen. Nicht jeder dort hatte seinen Eintritt ins Kriegskabinett goutiert, und nicht jeder hat ihn nun nach dem Austritt wieder herzlich empfangen. Zwar bezeichnet Jair Lapid von der liberalen Zukunftspartei die Entscheidung als „richtig und wichtig“.
Aber eine Konkurrenz bahnt sich allein deshalb an, weil Gantz in den Umfragen vorn liegt, Lapid aber über deutlich mehr Mandate im Parlament verfügt. Avigdor Lieberman von der Partei Unser Haus Israel kommentierte den Schritt von Gantz mit den Worten „besser spät als gar nicht“. Der neue Chef der Arbeitspartei, Jair Golan, warf Gantz vor, durch seine Mitwirkung im Kriegskabinett mitverantwortlich zu sein für die jetzige verfahrene Lage.
Vor eine neue Situation stellt der Austritt von Gantz aus dem Kriegskabinett auch die Verbündeten in Washington. Er galt in den vergangenen Monaten immer als bevorzugter Ansprechpartner der US-Regierung. Welche Auswirkungen sein Rückzug auf das Machtgefüge in Israel hat, muss nun Außenminister Antony Blinken ausloten, der auf seiner achten Nahostreise seit Kriegsbeginn am Montag in Israel erwartet wurde.
Auf dem Programm standen Gespräche mit Netanjahu und Gallant. Doch dem Radiosender Kan zufolge wollte sich Blinken auch mit Gantz treffen. Der hatte sich in seiner Ausstiegsrede eindeutig hinter die von US-Präsident Joe Biden propagierten Ziele in Nahost gestellt – vom vorliegenden Entwurf eines neuen Geiselabkommens samt Waffenruhe bis hin zur Annäherung an Saudi-Arabien. Von Netanjahu wird all das entweder offen abgelehnt oder heimlich hintertrieben. Kein Zweifel also kann daran bestehen, wen die US-Regierung lieber in der Verantwortung sähe in Israel.