Eine knappe Woche ist vergangen, seit Israels Oberstes Gericht ein spektakuläres Urteil gefällt hat. Es gebe keine juristische Grundlage dafür, ultraorthodoxe Männer von der Wehrpflicht zu befreien. Sofort wies Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara die Armee an, sich darauf vorzubereiten, 3000 Torah-Studenten einzuziehen. Seither ist die Stimmung im Land, das seit mehr als acht Monaten Krieg gegen die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen führt, noch aufgebrachter. Am Sonntag protestierten in Jerusalem Tausende Ultraorthodoxe, die sich auch Haredim („die Gottesfürchtigen“) nennen. Es flogen Steine auf die Polizei, die Wasserwerfer einsetzte.
Während säkulare Juden und die Opposition das Urteil lobten, warf Premier Benjamin Netanjahu seinen Gegnern vor, nicht an Lösungen interessiert zu sein, sondern nur den Sturz der Regierung anzustreben. Dies zeigt die Sprengkraft des Themas: Die Koalition könnte über der Frage zerbrechen, ob strenggläubige Juden zum Militärdienst müssen. Sie ist für Netanjahus politisches Überleben gefährlicher als die Proteste, bei denen Neuwahlen und ein Deal mit der Hamas zur Freilassung der Geiseln gefordert werden.
Welche Rolle spielen die Haredim in der israelischen Gesellschaft? Was verlangt das Gericht, wie ist die Stimmung in Netanjahus Partei, und braucht die Armee überhaupt mehr Soldaten? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Was besagt das Urteil genau?
Die bisherigen Ausnahmen für ultraorthodoxe Männer bei der Wehrpflicht sind vor drei Monaten ausgelaufen. Die Regierung schaffte es nicht, rechtzeitig ein Gesetz zu verabschieden, das die Erleichterungen zementiert hätte. Deswegen, so das Oberste Gericht, seien auch junge ultraorthodoxe Männer für 32 Monate einzuziehen. Schon im Frühjahr hatte es entschieden, dass staatliche Subventionen für Religionsschulen (Jeschiwas), an denen ultraorthodoxe Männer im wehrpflichtigen Alter studieren, gestrichen werden müssen, solange nicht genug Haredim eingezogen werden. Die Gelder sind neben Spenden aus den USA deren wichtigste Einnahmequelle.
Was bedeutet das Urteil für Benjamin Netanjahu und seine Koalition?
Die Regierung verfügt über 64 der 120 Sitze im Parlament. Netanjahus Partei, der Likud, hat 32 Sitze und braucht daher kleinere Parteien wie „Vereinigtes Torah-Judentum“ (VJT), 7 Sitze, und Schas (11), die die ultraorthodoxen Juden vertreten. Deren Politiker haben das Urteil zwar scharf verurteilt, aber bisher nicht erklärt, die Regierung verlassen zu wollen. Spekuliert wird, nach einem solchen Schritt könnten VJT und Schas Netanjahus Regierung tolerieren: Sie ahnen, dass sie nach Neuwahlen in der Opposition landen.
Denn die Stimmung in Israel hat sich gedreht. Wegen des Kriegs gegen die Hamas im Gazastreifen, wo laut palästinensischen Angaben knapp 38 000 Menschen gestorben sind, sowie der Bedrohung durch die proiranische Hisbollah in Libanon werden die Kampfeinsätze der Reservisten immer länger. Deren Verwandte bekommen die enorme Belastung und die Risiken natürlich mit – und empfinden Ausnahmen für die Haredim als noch ungerechter.
„Vor dem Krieg konnte man diskutieren, wie viele ultraorthodoxe Soldaten die Armee wirklich braucht oder ob es nicht besser wäre, junge Haredim in die Verwaltung oder auf den Arbeitsmarkt zu schicken“, heißt es in der liberalen Zeitung Haaretz. Nach dem 7. Oktober und dem Überfall der Hamas mit 1200 getöteten Israelis sei dies unmöglich. Das Gericht schreibt explizit: „Während eines aufreibenden Kriegs wiegt die Last der Ungleichheit schwerer als je zuvor.“
Diese Haltung spiegelt sich sogar in der Likud-Fraktion. Gerade wird über ein Gesetz verhandelt, das die Ausnahmen regeln soll. Es soll im Juli fertig werden, aber der Chef des zuständigen Ausschusses, der Likud-Politiker Yuli Edelstein, will einen Entwurf nur zur Abstimmung stellen, wenn ihn die wichtigsten Oppositionsparteien mittragen. Da diese nicht akzeptieren werden, was die Religiösen fordern, hat Netanjahu ein Problem: Er muss die eigenen Abgeordneten auf Linie bringen oder die Partner vertrösten.
Wie viele Ultraorthodoxe gibt es in Israel – und warum haben Tausende protestiert?
Offiziellen Statistiken zufolge leben in Israel etwa 1,3 Millionen ultraorthodoxe Jüdinnen und Juden, das entspricht 13,5 Prozent der Bevölkerung. Dieser Anteil steigt kontinuierlich, im Schnitt hat eine ultraorthodoxe Jüdin sieben Kinder. Am Sonntag protestierten Tausende Haredim gegen das Urteil. Auf Plakaten war unter anderem zu lesen: „Wir werden nicht der Armee des Feindes beitreten“. Die Autos von Spitzenpolitikern des Vereinigten Torah-Judentums wurden attackiert – die strenggläubigen Männer werfen der Partei vor, ihre Interessen schlecht zu vertreten. Die Gruppe der Haredim ist zersplittert, am Sonntag gingen vor allem Antizionisten auf die Straßen.
Wie entstand die bisherige Ausnahmeregel?
Im Zuge der Staatsgründung erlaubte David Ben Gurion, dass 400 ultraorthodoxe Männer nicht zum Militär mussten, sondern weiter die Thora studieren durften. Nach dem Holocaust sollte dieses Wissen stabilisiert und wieder aufgebaut werden. Heute sind es jedoch mindestens 60 000 junge Männer, die den ganzen Tag die Torah und den Talmud studieren.
Früher habe es nur Ausnahmen für die „Superstars der religiösen Welt“ gegeben, ätzt ein Kommentator der Zeitung Israel Hayom. Heute könnte die Armee mehr als drei Divisionen füllen mit den jungen Männern, die vom Dienst an der Waffe befreit sind. Es gibt bereits streng religiöse Männer, die sich freiwillig melden. Viele dienen an der Seite von Siedlern im Netzah-Yehuda-Bataillon, das im Westjordanland allerdings so brutal vorgeht, dass unter anderen die USA Sanktionen gegen dessen Mitglieder erwägen.
Hat das Urteil Folgen für den Krieg in Gaza und den Konflikt mit der Hisbollah?
Nein, es wird zunächst lange dauern, um die ersten Haredim-Soldaten auszubilden. Kurzfristig löst sich das Problem für Israels Streitkräfte nicht, dass sie zu wenig Kampfsoldaten haben – laut Haaretz etwa 8000. Die Zeitung Maariv berichtete, die Streitkräfte würden zunächst einen Stützpunkt auswählen, wo die ultraorthodoxen Männer ihre Grundausbildung absolvieren sollen. Später sollen sie einzelne Bataillone bestücken, die für „Routine-Sicherheitsausgaben“ vorgesehen sind. Die Integration der Haredim dürfte der Armee nicht leichtfallen. Diese weigern sich unter anderem, mit Soldatinnen zusammenzuarbeiten, und werden auch die Einhaltung ihrer besonders strengen Essensregeln fordern.