Israel:Aufschrei in Tel Aviv

Die zweite Corona-Welle trifft das Land schwer. Premier Netanjahu steht in der Kritik - auch vom Koalitionspartner.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Israelis protest against the government's response to the financial fallout of the coronavirus disease (COVID- 19) crisis at Rabin square in Tel Aviv

Mehr als 10 000 Menschen protestieren am Samstagabend in Tel Aviv. Viele fürchten im Zuge der Corona-Pandemie den finanziellen Ruin.

(Foto: Ammar Awad/Reuters)

Ausgerüstet mit Protestschildern und Gesichtsmasken haben am Samstagabend mehr als 10 000 Israelis auf dem zentralen Rabin-Platz in Tel Aviv demonstriert. Für den stellvertretenden Gesundheitsminister Joav Kisch von der regierenden Likud-Partei war das ein "gesundheitlicher Terrorangriff". Für die Teilnehmer ist es ein längst fälliger Aufschrei gewesen angesichts der wirtschaftlichen Verheerungen durch die Pandemie. Es kamen die Arbeitslosen und die Selbständigen, die Gastronomen und die Besitzer kleiner Läden, die Handwerker und die Künstler. Was sie vereint, ist das Gefühl, von der Regierung im Stich gelassen worden zu sein. Was sie auf die Straße treibt und hinterher auch noch ein paar Krawalle befeuerte, ist die Wut. Regierungschef Netanjahu hat also allen Grund, besorgt zu sein.

Hatte sich der Premier bei der ersten Corona-Welle im Frühjahr noch international und Zuhause loben lassen für die rasche Eindämmung der Infektionen, so zeigt sich die Regierung nun weitgehend unvorbereitet auf den neuerlichen Ausbruch. Netanjahu, der sonst keinen Hang zur Selbstkritik erkennen lässt, musste einräumen, dass die Öffnung der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens "rückblickend zu früh" gekommen sei. Nun steigen die Infektionszahlen fast täglich. Ende voriger Woche wurde ein neuer Tageshöchstwert von mehr als 1500 neuen Fällen registriert. Bei einer Zahl von 2000, so hieß es jüngst aus dem Gesundheitsministerium, könnte ein neuer Lockdown drohen. Ein Horrorszenario fürs ganze Land ist dies, weil die negativen Folgen der vorherigen Maßnahmen längst noch nicht überwunden sind. Fast eine Million Menschen sind arbeitslos. Die Arbeitslosenrate, die als Spitzenwert 25 Prozent erreicht hatte, liegt damit immer noch bei 21 Prozent. Quer durch alle Sektoren wird geklagt, dass die von der Regierung zugesagten Hilfen nicht ankommen.

Mit einem neuen Hilfspaket in Höhe von insgesamt 80 Milliarden Schekel, umgerechnet rund 20 Milliarden Euro, hatten Netanjahu und sein Finanzminister Israel Katz Ende voriger Woche noch versucht, dem angekündigten Protest die Spitze zu nehmen. Angepriesen wurde es als "Sicherheitsnetz", das allen Betroffenen bis zum Juni 2021 Hilfe verspricht. Selbständige sollen eine sofortige Zahlung von knapp 2000 Euro bekommen, kleine Unternehmen alle zwei Monate etwa 1500 Euro und große Unternehmen bis zu knapp 130 000 Euro. "Ich höre euch", versicherte Netanjahu den bedrängten Bürgern bei der Vorstellung des Pakets, "und ich arbeite Tag und Nacht für euch."

Daran allerdings gibt es begründete Zweifel, zumal der Regierungschef in jüngster Zeit einen Teil seiner Energie darauf gerichtet hatte, sich vom Parlament Steuervorteile bescheinigen zu lassen. Auch hier musste er einräumen, dass dies der "falsche Zeitpunkt" dafür gewesen sei. Grundsätzlich erscheint die auf 34 Minister plus 16 Vizeminister aufgeblähte Regierung oft als abgehoben. Zuletzt sorgte Gesundheitsminister Juli Edelstein für Aufregung, als er Berichten zufolge eine Geburtstagsparty für seine Gattin mit Dutzenden Gästen veranstaltete, während die Regierung gerade private Zusammenkünfte mit mehr als 20 Menschen verboten hatte.

All dies treibt die Unzufriedenheit auch in jenen Schichten an, die zu Netanjahus treuen Wählern zählen. Die Demonstration auf dem Tel Aviver Rabin-Platz sollte also nicht nur jene anziehen, die ohnehin immer wieder gegen den seit 2009 ununterbrochen regierenden Netanjahu protestieren. Die Veranstalter wollten sich nicht vereinnahmen lassen und ließen auch keine Politikerreden zu. Von der Seitenlinie aus gab es dennoch reichlich Kommentare, und der interessanteste kam von Verteidigungsminister Benny Gantz vom Bündnis Blau-Weiß. Er nannte den Protest gegen die Regierung, der er selbst angehört, "ehrlich, wahrhaft und gerechtfertigt". Deutlicher kann man die Bruchlinien in der im Mai geschlossenen Koalition kaum aufzeigen.

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