Mitten im Mehrfrontenkrieg beherrscht in Israel eine Geschichte über Geheimnisverrat die Schlagzeilen und Debatten. Im Zentrum des Sturms wird das Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu verortet, aus dessen Umfeld den Berichten zufolge vertrauliche Militärunterlagen bei ausländischen Medien platziert worden sein sollen, darunter auch die Bild-Zeitung. Ziel der Durchstecherei soll es gewesen sein, einen Geisel-Deal mit der Hamas zu hintertreiben. Der Inlandsgeheimdienst Shin Bet führt die Ermittlungen zusammen mit Armee und Polizei. Vier Verdächtige wurden in der vorigen Woche festgenommen.
Auch wenn die israelischen Medien voll sind mit Berichten, bleiben viele Details dieses Falls im Dunkeln. Der Grund: Das zuständige Gericht hat eine Nachrichtensperre verhängt mit dem Hinweis, dass in diesem Fall eine „ernsthafte Gefahr für die nationale Sicherheit und ein Risiko für Informationsquellen“ bestehe. Nur schrittweise wird diese Informationsblockade gelockert. Am Sonntagabend wurde so bekannt, dass der Hauptverdächtige ein Mann namens Eli Feldstein ist, der als eine Art informeller Sprecher zum engeren Umfeld Netanjahus gezählt wird. Die anderen Verdächtigen sollen aus dem Sicherheitsapparat kommen. Einer von ihnen ist inzwischen wieder auf freiem Fuß.
Setzt man die Puzzlesteine der Verlautbarungen und Berichte zusammen, so hat die brisante Affäre vor zwei Monaten ihren Anfang genommen. Am 1. September vermeldete die Armee, dass die Leichen von sechs israelischen Geiseln in einem Tunnel im Gazastreifen entdeckt worden waren. Die Entführten waren kurz zuvor von ihren Hamas-Peinigern mit Kopfschüssen hingerichtet worden. Dieser Leichenfund wühlte Israel enorm auf. Die Demonstrationen, auf denen laut und dringlich ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln gefordert wurden, wurden nun täglich abgehalten. Hunderttausende nahmen teil.
Nützliche Artikel in der Auslandspresse
Unter Druck geriet damit Netanjahu, dessen Partner von Rechtsaußen seit jeher mit dem Bruch der Koalition drohen, sollten der Hamas irgendwelche Zugeständnisse gemacht werden. Von vielen Seiten wird dem Regierungschef deshalb vorgeworfen, ein Abkommen immer wieder zu torpedieren, um die eigene Macht nicht zu gefährden.
Als durchaus nützlich erscheinen bei einer solchen Strategie zwei Artikel, die unter Verweis auf geheime israelische Dokumente in der ersten Septemberwoche in ausländischen Medien erschienen. Zunächst sorgte der in London erscheinende Jewish Chronicle für Aufsehen mit einem dem Bericht, dass Hamas-Anführer Jahia Sinwar plane, Geiseln über die Grenze nach Ägypten zu schmuggeln. Kurz darauf erschien Bild mit der Schlagzeile: „Zum Schaudern! Das plant der Hamas-Chef mit dem Geiseln“. Unter Berufung auf ein exklusiv erhaltenes Dokument, das direkt von Sinwars Computer stamme, wird ausgeführt, dass die Hamas keinerlei Interesse an einem schnellen Kriegsende habe, sondern allein „die internationale Gemeinschaft manipulieren und die Geiselfamilien quälen“ wolle, um Israels Regierung unter Druck zu setzen.
Die von den Berichten aufgeschreckte Armee leitete sofort Untersuchungen wegen der Weitergabe der angesprochenen Dokumente ein. Der Bericht im Jewish Chronicle erwies sich schnell als Fälschung. Die Wochenzeitung nahm den Artikel von der Webseite, der Autor wurde gefeuert. Zum Bild-Bericht ließ die Armee wissen, er basiere auf einem alten Dokument, das nicht von Sinwar, sondern „als Empfehlung von mittleren Rängen der Hamas“ geschrieben worden sei.
Netanjahu hat sich nach Kräften von dem Vorfall und dem Verdächtigen distanziert
Da allerdings hatte Netanjahu die beiden Berichte längst zu nutzen gewusst. Der Plan zum angeblichen Geisel-Schmuggel über die Grenze passte bestens zu seiner Argumentation, dass die israelische Armee den sogenannten Philadelphi-Korridor zwischen Gaza und Ägypten niemals räumen dürfe. Den Bild-Bericht zitierte der Regierungschef Berichten zufolge wenig später in einer Kabinettssitzung, um zu belegen, dass die Schuld am Scheitern eines Geisel-Abkommens nicht bei ihm, sondern allein bei der Hamas liege.
Die alte Frage „Cui bono“, also nach dem Nutznießer der Leaks und Medienberichte, wäre damit geklärt. Längst nicht geklärt ist allerdings, ob vom verdächtigten Sprecher Eli Feldstein eine direkte Linie zu Netanjahu gezogen werden kann. Der Premier hat sich sogleich nach Kräften von Feldstein und diesem ganzen Vorfall distanziert. Seine Gegner dagegen versuchen, Netanjahu in den Fokus der weiteren Ermittlungen zu rücken. Entweder wisse er von dem Fall und sei damit ein Mittäter, erklärte Oppositionsführer Jair Lapid. Oder er wisse nichts – womit bewiesen sei, dass er den eigenen Laden nicht mehr im Griff habe.