Die Bürger vieler arabischer Staaten beeindrucken uns alle durch ihren Mut: Unter Gefahr für Leib und Leben gehen sie auf die Straße, um für ihre Freiheit zu kämpfen. Alle Schichten der Gesellschaft sind beteiligt. Die Welt ist Zeuge geworden, wie Christen Muslime während des Freitagsgebets auf dem Tahrir-Platz vor bezahlten Schlägern schützten und umgekehrt Muslime die Christen während der Sonntagsmesse. Die ägyptische Revolution lieferte uns Bilder, die nicht zu den üblichen Klischees passten.
In anderen arabischen Ländern geht es leider weniger friedlich zu. Dies ist nicht den Demonstranten anzulasten, sondern der Brachialgewalt, wie sie beispielsweise Libyens Diktator gegen sein eigenes Volk anwendet. Ermutigt durch seine direkten Nachbarländer Ägypten und Tunesien ging auch hier das Volk zunächst friedlich für Freiheit und Demokratie auf die Straßen und wurde von Gaddafis Militärmaschine brutal niedergewalzt.
Europa hat jetzt die große Chance, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Aber das setzt voraus, dass es die eigenen, wohltönenden Worte auch in ehrliche Politik umsetzt - nicht zuletzt gegenüber ihren eigenen muslimischen Bürgern. Jahrzehntelang haben Europa und die USA mit Despoten gekungelt, während sie gleichzeitig blind waren gegenüber jenen, die wegen ihres Eintretens für Menschenrechte und Freiheit drangsaliert und ermordet wurden.
So sehr ich die hehren Worte beim Besuch des deutschen Außenministers auf dem Tahrir-Platz in Kairo begrüßt habe, der die ägyptische Revolution mit der in Osteuropa von 1989 verglich, so unverständlich ist für mich die anschließende Enthaltung der Bundesregierung beim UN-Abstimmungsprozess zum Libyen-Einsatz. Natürlich ist dies eine selten schwierige Abwägung. Aber die Begründung der Enthaltung ist nicht verständlich.
Ein Ja aus Berlin hätte nicht zwingend die Entsendung von Bundeswehrsoldaten bedeutet. Der Kampf am Boden ist ohnehin Aufgabe des libyschen Volkes, das bereit ist, seinen Tyrannen abzuschütteln.
Die Mehrheit der deutschen Muslime steht trotz der aktuellen Bilder aus dem Irak und Afghanistan hinter der UN-Resolution, die übrigens gemeinsam vom Westen und von der muslimischen Welt getragen wird; schon das ist bemerkenswert. Selbst die Arabische Liga ist dafür. Schon jetzt ist erkennbar, dass durch die Flugverbotszone Gaddafis Tötungsmaschine gestoppt wurde - ein erster Erfolg der Alliierten.
Und haben wir nicht noch den Völkermord in Bosnien vor Augen? Weil Europa sich seinerzeit wegduckte, wurden Tausende Menschen in den Tod getrieben. Nicht wenige Experten sind heute der Meinung, dass durch gezielte Luftschläge die Massenmorde von Srebrenica hätten verhindert werden können. Umso unverständlicher ist der Sonderweg Deutschlands in der Libyenfrage.
Überhaupt scheint die Bundesrepublik ein angespanntes Verhältnis zu den deutschen Muslimen zu haben, wie man an der Islamkonferenz sieht, die seit einiger Zeit auf der Stelle stehenbleibt. Während wir eine Zeitenwende in der islamischen Welt erleben und dabei sehen, dass Islam und Demokratie miteinander einhergehen können, ja sogar müssen, bediente der neue Innenminister Hans-Peter Friedrich zum wiederholten Male die Klischees erzkonservativer Kreise: Er behauptete, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.
Dabei sind die über vier Millionen Muslime im Lande eine nicht mehr wegzudenkende gesellschaftliche Gruppe. Die eigentliche Frage ist doch: Ist Deutschland bereit, seinen Muslimen eine Chance zu geben, oder setzt es sie - ähnlich wie die kruden Sarrazin-Thesen es tun - direkt auf die Anklagebank? Aber so geht man einem konstruktiven Dialog ausgerechnet mit jenen aus dem Wege, die man stets zum Dialog auffordert.
Es bleibt also abzuwarten, ob die Islamkonferenz sich auf lange Sicht wirklich mit der Integration des Islam in das deutsche Staatswesen auseinandersetzt oder am Ende doch nur eine verkappte Sicherheitskonferenz ist, um die Muslime an der langen Leine zu halten.
Allen hiesigen Unkenrufen zum Trotz haben religiöse Fanatiker oder die al-Qaida bei den Volksaufständen in der arabischen Welt keine Rolle gespielt. Auch muslimische Vertreter hierzulande haben stets betont, dass der Einfluss Radikaler marginal ist. Geglaubt hat man ihnen nicht. Geglaubt hat man den Diktatoren, die ihre Gewaltherrschaft mit der angeblichen islamistischen Gefahr begründeten. Geglaubt hat man den sogenannten Islamkritikern, die gläubigen Muslimen grundsätzlich die Fähigkeit zur Zivilgesellschaft absprechen.
Nun stellt sich heraus, wie wirkungsmächtig diese Phrasen sind - aber auch wie falsch. Die Angst vor dem bösen Muslim bleibt dennoch allgegenwärtig. Es hätte genügt, die Plakate der Demonstranten zu lesen und ihre Slogans zu hören, um zu erkennen, was diese Menschen millionenfach auf die Straße getrieben hat: nicht religiöser Fanatismus, sondern die Sehnsucht nach Freiheit, Bürgerrechten, fairen Wahlen und einem Leben in Würde. Aber hiesige "Experten" und "Islamkritiker" konnten die Plakate nicht lesen und die Slogans nicht verstehen, weil sie im doppelten Sinne der Bedeutung die Sprache der muslimischen Völker nicht verstehen. Sie wollten nicht einsehen, dass diese die gleichen Sehnsüchte hatten wie die Osteuropäer vor dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Religiöse Gruppierungen in Arabien wie die Muslimbrüder werden sich dem demokratischen Wettbewerb stellen müssen. Man wird von ihnen seriöse Antworten auf die gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme ihrer Länder erwarten. Die Zeiten der Ideologisierung der Religion sind - das hat die Revolution eindrucksvoll gezeigt - endgültig vorbei.
Aber will das die deutsche Politik überhaupt wissen? Sie sollte es nicht bei leeren Versprechungen wie bei der Islamkonferenz belassen, sondern die Muslime als gleichberechtigte Religionsgemeinschaften anerkennen. Nach 1989 hat der Westen den Osteuropäern geholfen. Nun muss er im ureigensten Interesse den arabischen Ländern helfen.