Islamisten in Nigeria:Der Terrorfeldzug von Boko Haram

Dörfer werden niedergebrannt, die Ärmsten massakriert. Die Terrormiliz Boko Haram überzieht Nigeria mit unvorstellbarer Gewalt. Wir dokumentierten die brutalen Exzesse der vergangenen Jahre und erklären den Rachefeldzug der Terrormiliz.

Von Isabel Pfaff (Text) und Steffen Kühne (Grafik)

5. Mai. 2014: Überfall auf die Grenzstadt Gambaru. Boko-Haram-Milizen kommen mit gepanzerten Fahrzeugen, schießen wahllos in eine Menschenmenge. 300 Menschen werden ermordet, der Ort wird fast vollständig zerstört.

6. Oktober 2014: Kämpfe zwischen Boko Haram und Militär im Bundesstaat Adamawa im Nordosten Nigerias. 300 Kämpfer der Terrorgruppe und 70 Soldaten werden getötet.

7. Januar 2015: Kämpfer von Boko Haram überfallen mehrere Dörfer am Tschadsee und töten Hunderte oder sogar Tausende. Niemand kann sagen, wie viele Menschen genau ums Leben gekommen sind. Unter all den blutigen Attacken von Boko Haram sei das der zerstörerischste Angriff gewesen, sagt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International.

Seit fast sechs Jahren überzieht die Terrormiliz Boko Haram den Nordosten Nigerias mit unvorstellbarer Gewalt, brennt Dörfer nieder und massakriert die ärmsten Bewohner des Landes. Die Karte oben illustriert das Ausmaß des Schreckens. In immer kürzeren Abständen schlagen die Islamisten zu, immer mehr Menschen, vor allem: immer mehr Zivilisten sterben.

In wenigen Tagen sollen die Nigerianer einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament wählen. Doch der Terror der Miliz, die schätzungsweise nicht mehr als 5000 Kämpfer hat, gefährdet die Abstimmung in dem 160-Millionen-Staat.

Was genau will diese Gruppe? Ist sie ein Al-Qaida-Ableger, wie es ihre Anführer einige Male behauptet haben? Oder eine Art Islamischer Staat, der Teile Nigerias abspalten und in einen Gottesstaat verwandeln will?

Diese Terror-Schablonen eignen sich nur sehr bedingt, um Boko Haram zu verstehen. Ohne die besonderen politischen Gegebenheiten Nigerias ist die Gruppe nicht denkbar, auch wenn die Milizionäre an globale islamistische Strömungen anknüpfen.

Geschäft mit Superlativen

Politik in Nigeria ist ein Geschäft mit Superlativen. Das Land ist Afrikas größte Volkswirtschaft. In keinem Land des Kontinents leben mehr Menschen und nirgendwo auf dem Erdteil werden mehr Sprachen gesprochen als hier: knapp 500. All das macht den westafrikanischen Riesen zu einem interessanten, pulsierenden Land. Doch die Rekorde verweisen auch auf die tiefen Risse, die Nigeria durchziehen. Willkürlich von der britischen Kolonialmacht zusammengewürfelt, leidet der Staat bis heute unter seinen höchst unterschiedlichen Landesteilen.

Einem christlich geprägten Süden steht ein mehrheitlich muslimischer Norden gegenüber. Der Beginn der Ölförderung Mitte des 20. Jahrhunderts verschärfte diese Kluft: Nun konzentrierte sich im Süden nicht nur eine weltgewandte, christliche Bevölkerungsschicht, sondern mit den Ölfeldern im Nigerdelta auch der wirtschaftliche Reichtum.

Männern aus dem Norden gehörte die politische Macht

Der Kampf um Ressourcen prägte die nigerianische Politik von Beginn an: Seit dem Unabhängigkeitsjahr 1960 regierte fast pausenlos das Militär - dominiert von Nordnigerianern. Ein General nach dem anderen putschte seinen Vorgänger von der Macht und kontrollierte damit nicht nur einen Staat, sondern auch Afrikas größte Ölreserven. So etablierte sich ein ungeschriebenes Gesetz: Die Bevölkerungsgruppen im Süden profitierten vom Wirtschaftspotenzial der Ölfelder, doch Männern aus dem Norden gehörte die politische Macht - und damit der Zugriff auf die Staatskasse.

In den Neunzigern bereitete der Druck westlicher Sanktionen dem Spiel der Generäle ein Ende. 1999 ließ die Armee Wahlen abhalten und überließ die Macht dauerhaft einer zivilen Regierung. Doch Frieden brachte dieser Schritt nicht - zu gespalten war das Land, zu ungleich die Chancenverteilung, zu korrupt die Eliten, egal in welchem Landesteil.

Genau dieser Zeitpunkt, die Jahrtausendwende, ist die Geburtsstunde von Boko Haram.

Viele Menschen in Nordnigeria haben gute Gründe, ihren Staat zu hassen. Trotz des Öls und der föderalen Struktur, die den Reichtum verteilen soll, sind die Bundesstaaten im Norden bettelarm. Es gibt kaum Arbeit, die Infrastruktur ist erbärmlich. Und genau hier operieren die Boko-Haram-Milizen, wie die Karte zeigt. Jeder Punkt steht für einen Anschlag, ein Massaker, für Kämpfe zwischen Soldaten und Milizen (wenn Sie auf einen Punkt klicken, erfahren Sie, was genau passiert ist).

In den Augen der Bewohner hat das säkulare, das westliche System versagt - egal ob das Militär oder eine zivile Regierung gerade die Macht ausübt. "Den meisten Muslimen im Norden erscheint es deshalb logisch, sich der Religion zuzuwenden", schreibt der Nigeria-Experte Johannes Harnischfeger in einem aktuellen Aufsatz über die Ursprünge von Boko Haram.

"Hinter einer Fassade muslimischer Frömmigkeit"

Die Menschen, so Harnischfeger, verbänden damit die Hoffnung, dass sich die Eliten wenigstens der Autorität Gottes unterordnen würden. Ein islamisches Rechtssystem sehen viele als letztes Mittel gegen die Korruption und den moralischen Verfall der Machthaber.

Genau diese Hoffnung machten sich die nördlichen Politiker-Cliquen um die Jahrtausendwende zunutze. Bis 1999 hatten sie über das Militär Zugriff auf die Macht, nun mussten sie plötzlich die Gunst der Wähler gewinnen. Also plädierten sie für die Einführung eines strikten islamischen Rechtssystems in den nördlichen Bundesstaaten - gemäßigte Varianten gab es bereits seit der Unabhängigkeit - und hatten Erfolg. Viele der früheren Funktionäre sicherten sich neue Regierungsposten und setzten in zwölf der 36 Bundesstaaten Nigerias Formen der Scharia durch.

Doch sie taten es halbherzig. Damit riefen sie radikale Prediger auf den Plan, die nicht mehr nur gegen den Westen und die säkularen Institutionen Nigerias wetterten, sondern auch gegen die verräterischen lokalen Politiker, die weiter ihren ausschweifenden Lebensstil pflegten - "hinter einer Fassade muslimischer Frömmigkeit", wie Harnischfeger schreibt.

Einer dieser Prediger war Mohammed Yusuf, der als der Gründer von Boko Haram gilt. Um das Jahr 2005 begann Yusuf im Bundesstaat Borno für eine radikale Form des politischen Islam zu werben - allerdings weitgehend gewaltfrei, vorrangig über Predigten und Sozialarbeit in den Armenvierteln.

Boko Haram - westliche Bildung ist verboten

Seine Anhänger rekrutierte Yusuf aus den Massen an arbeits- und perspektivlosen Jugendlichen. Ihre Bewegung namens Jama'atu Ahlis Sunna Lidda'awati wal-Jihad (Vereinigung für die Verbreitung der Lehren des Propheten und des Dschihad) erhielt bald den Spitznamen Boko Haram - westliche Bildung ist verboten. Der Name verweist auf ein wichtiges Element von Yusufs Ideologie: Er kämpfte für einen islamischen Staat und lehnte jeglichen Kontakt mit westlich geprägten Institutionen ab.

Zunächst kooperierte seine Sekte mit den etablierten religiösen Instanzen und unterstützte lokale Politiker mit islamistischer Agenda. Doch 2009 kam es zum Bruch. Der Gouverneur von Borno, einer der Scharia-Befürworter, rief die staatlichen Sicherheitskräfte zu Hilfe, die mehrere Boko-Haram-Mitglieder ohne Anklage oder Gerichtsprozess töteten, darunter auch Mohammed Yusuf und andere Führungsfiguren.

Der Tod des Führers war der Wendepunkt

Dies war der Wendepunkt: Von einer radikalen islamischen Sekte wurde Boko Haram zur Terrormiliz. Der Tod ihres Anführers radikalisierte die Mitglieder, die von 2010 an aus dem Untergrund heraus Anschläge vor allem auf Militärs und Vertreter der Staatsgewalt verübten - Regierungsstellen, Polizeistationen, Schulen.

Ihr wichtigstes Motiv, das legen die anfänglichen Anschlagsziele nahe, war Rache. Und bis heute kommt der Terror von Boko Haram mehr einem Rachefeldzug gegen den nigerianischen Staat und seine Sicherheitskräfte gleich als dem Kampf für einen Gottesstaat.

Denn mit dem Eintritt des Militärs in den Konflikt setzte sich ein Kreislauf in Gang, der die Gewalt im Nordosten Nigerias eskalieren ließ und bis heute schätzungsweise 15 000 Menschenleben gefordert hat.

Die Zentralregierung Nigerias, seit 2010 geführt von dem Christen Goodluck Jonathan, interessierte sich wenig für die Terrorgruppe, die hin und wieder Anschläge im Nordosten verübte und selten in Richtung Süden vordrang. Sie delegierte das Problem an die Armee. Die agiert auch nach dem Ende der Militärdiktatur noch wie ein Staat im Staate. In der Terrormiliz sah sie eine Möglichkeit, Ressourcen für sich zu mobilisieren: Solange die Sicherheitslage im Norden schlecht ist, fließt Geld an die Streitkräfte - aktuell etwa ein Viertel des nigerianischen Budgets.

Die Strategie der Armee war deshalb alles andere als deeskalierend. In den betroffenen Gebieten griffen die Streitkräfte hart durch; seit 2013 auch mit Hilfe des Notstands, den die Regierung über die Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa verhängt hat. Das brutale und ungezielte Vorgehen der Sicherheitskräfte, die kaum zwischen echten Boko-Haram-Anhängern und unschuldigen Zivilisten unterschieden, brachte die Menschen weiter gegen den Staat auf und verschaffte der Terrormiliz Zulauf. So nahm die Gewalt zu: Hatten die Soldaten wieder einmal Mitglieder von Boko Haram verhaftet oder getötet, rächten sich die Milizionäre mit einem weiteren Anschlag.

Beobachter berichten außerdem von Soldaten, die Waffen und Ausrüstung an Boko Haram verkaufen. Vereinzelt mag das ein Nebenverdienst für die schlecht verdienenden einfachen Soldaten sein, bei denen wenig vom Militärbudget ankommt. Meist geht es aber wohl darum, den Konflikt und damit die Geldströme am Laufen zu halten.

Inzwischen gilt Boko Haram als eine gut gerüstete Miliz, mit deren Bewaffnung es viele Militäreinheiten nicht aufnehmen können. Ihr Terror hat sich verändert, Anschläge sind nicht mehr das wichtigste Kampfmittel. Auf Pick-ups, ja sogar Panzern greifen die Terroristen mittlerweile ganze Städte an, entführen Hunderte Zivilisten auf einen Schlag und liefern sich armeegleich Gefechte mit dem nigerianischen Militär.

Gleichzeitig hat sich die Struktur der Miliz verändert. Ihre wichtigsten Anführer sind tot oder im Gefängnis - selbst der Mann, der sich aktuell als Anführer ausgibt, soll nur ein Doppelgänger von Abubakar Shekau sein, wie mehrere Beobachter vermuten.

Den meisten geht es um Krieg

Unter dem Label Boko Haram agieren inzwischen zahllose Splittergruppen mit unterschiedlichen Zielen. Anfängliche Grundsätze werden längst nicht mehr befolgt, unschuldige Zivilisten genauso getötet wie Militärs.

Den meisten geht es um Krieg - und um das Geschäft dahinter. Die Milizionäre finanzieren sich über Banküberfälle, Lösegelder und Waffenhandel. Der Gottesstaat wird zwar weiterhin als Ziel angegeben, doch wo die Terroristen herrschen, kümmern sie sich nicht um den Aufbau staatlicher Strukturen. Sie kontrollieren ihre Gebiete im Nordosten über Waffengewalt und Schutzgelderpressung, wie der Journalist und Terror-Experte Marc Engelhardt in seinem Buch "Heiliger Krieg - Heiliger Profit" schreibt. Was Mohammed Yusuf einst im Sinn hatte, schert seine Nachfolger offensichtlich wenig.

Boko Haram ist heute mehr eine Kriminellenmiliz als eine Dschihadistengruppe mit politischer Vision. Vor allem aber ist sie Zeichen eines dysfunktionalen Staates. Erst wenn es Nigeria gelingt, all seinen Bewohnern gleichermaßen eine Perspektive zu bieten, wird der Terror von Boko Haram an Kraft verlieren.

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