Süddeutsche Zeitung

Islamisten in Nigeria:Boko Haram - der afrikanische IS?

Die radikalislamische Terrorgruppe Boko Haram erobert immer mehr Orte im Nordosten Nigerias. Wie ihre Gesinnungsgenossen im Irak entführen sie junge Frauen, reden von einem Kalifat. Warum man beide Gruppen trotzdem nur bedingt vergleichen kann.

Von Isabel Pfaff

Maiduguri ist umstellt. Immer mehr Orte rund um die Millionenstadt im Nordosten Nigerias fallen an Boko Haram, die radikalislamische Miliz, die für mehrere Tausend Tote im Norden Nigerias verantwortlich ist. Sollte es den Islamisten gelingen, demnächst mit Maiduguri die Hauptstadt der Provinz Borno einzunehmen, stünde dieser Bundesstaat faktisch unter ihrer Kontrolle.

Wird Nigeria zum zerfallenden Staat? Ist Boko Haram der afrikanische IS, der Teile Nigerias abspaltet, während die Armee des Landes hilflos zusieht? Manches spricht dafür. So rief der Anführer von Boko Haram, Abubakar Shekau, Ende August ein Kalifat im Nordosten Nigerias aus; ähnlich dem, das die IS-Milizen in Teilen des Irak und Syriens ausgerufen haben.

Aus der Terrorgruppe wird eine Armee

Auch die Mittel der beiden Islamisten-Gruppen ähneln sich: Sowohl der IS als auch Boko Haram entführen Zivilisten, häufig Frauen und junge Mädchen - nach eigenen Angaben, um sie mit den Kämpfern zu verheiraten. Internationale Aufmerksamkeit erlangte der Fall der knapp 280 Schülerinnen, die Boko-Haram-Kämpfer im April aus Chibok entführten und von denen die meisten noch immer verschwunden sind.

Wie der IS beginnen nun auch die nigerianischen Milizen, weniger wie eine Terrorgruppe und mehr wie eine konventionelle Armee vorzugehen. Die Expertengruppe Nigeria Security Network warnt in einem Bericht vor der neuen Strategie, die Boko Haram seit Juli in den nordöstlichen Bundesstaaten Borno, Adamawa und Yobe anwende: Die Milizen, ausgerüstet mit schweren Waffen und gepanzerten Fahrzeugen, konfrontierten die Armee immer direkter. Statt wie bisher den Nordosten mit Anschlägen und Überfällen zu terrorisieren, erobere Boko Haram nun dauerhaft ganze Städte - auf Kosten Hunderter ziviler Opfer, ganz so wie vorher auch.

Boko Haram hat Erfolg, weil die Regierung zu wenig tut

Die Gewalt in Borno - sowohl seitens der Islamisten als auch der Armee - treibt die Menschen fort. Anfang September meldete das UN-Büro zur Koordinierung humanitärer Hilfe, dass mittlerweile etwa 80 000 Menschen aus dem Nordosten Nigerias ins Nachbarland Niger geflohen seien. Dass nun selbst Maiduguri an Boko Haram fallen könnte, verstärkt die Panik.

Doch trotz des Vormarschs der Islamisten warnen Beobachter davor, die Parallelen zwischen dem IS und Boko Haram zu ernst zu nehmen. Der nigerianische Politikwissenschaftler Nkwachukwu Orji hält die Miliz für zu schwach, um einen Bundesstaat wie Borno dauerhaft zu beherrschen. Ihre Erfolge führt Orji auf den mangelnden Willen der nigerianischen Regierung zurück, die Extremisten wirklich zu stoppen. "Lange hat die Zentralregierung Boko Haram als Problem des Nordens abgetan - und dessen Lösung an das Militär delegiert", sagt Orji. In einem gespaltenen Land wie Nigeria sei das möglich: Geld und Macht sitzen im ölreichen Süden. Um die Sicherheitslage im Norden schert sich in den südlichen Metropolen kaum jemand.

Die Armee verfolgt in Nigeria traditionell ihre eigenen Interessen. Die Bedrohung durch Boko Haram lässt den Zentralstaat zwar Unsummen in den Sicherheitssektor pumpen - doch von dem Geld kommt selten etwas bei den Truppen an, die die Bevölkerung im Nordosten vor den Milizen schützen sollen. Stattdessen verschwindet es in den Taschen hochrangiger Offiziere. Beobachter erzählen von meuternden Soldaten, die sich aufgrund ihrer schlechten Ausrüstung weigern, gegen die Milizionäre zu kämpfen.

Die Kämpfer von Boko Haram hingegen sind besser ausgestattet. Der Waffenhandel in Westafrika blüht; das Geld für ihre Ausrüstung beschaffen sich die Milizen vor allem durch Raubüberfälle. Und auch hier kommt wieder die nigerianische Armee ins Spiel, wie Heinrich Bergstresser, Politologe und Nigeria-Experte, erklärt: Viele Offiziere würden den Islamisten Rüstungsgüter verkaufen oder vermieten - auch, damit die Sicherheitslage und damit das Militärbudget so bleibe. "Für die Armee ist der Aufstand von Boko Haram ein Geschäft."

Vor den Wahlen will Präsident Jonathan nicht eingreifen

Die Regierung unter Präsident Goodluck Jonathan hat dem Terror der Islamisten und dem autonomen Treiben der Streitkräfte bislang untätig zugesehen. "Bis zu den Wahlen im Februar 2015 wird das wohl auch so bleiben", vermutet der Analyst Orji.

Es sieht nämlich gut aus für Jonathan und seine People's Democratic Party; ein entschiedener Eingriff im Norden erscheint der Regierung deshalb vor den Wahlen zu riskant. Bergstresser bestätigt die Einschätzung: "Bislang ist Boko Haram für Nigerias mächtige Akteure einfach nicht gefährlich genug."

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SZ vom 10.09.2014/zoch
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