Islamismus:Vorgeschmack auf das Kalifat

Militant Islamist fighters take part in a military parade along the streets of northern Raqqa province

Bei einer Straßenparade in Raqqa: Die Miliz Islamischer Staat.

(Foto: Reuters)

Finanziert aus Öleinnahmen baut die Miliz Islamischer Staat ein krudes Gemeinwesen in von ihr kontrollierten Gebieten auf. So entsteht zwischen Aleppo und Mossul ein Staat, der mit Schleierzwang und Scharia-Gesetzen von sich reden macht, seinen Bewohnern aber einen wesentlichen Vorteil bietet.

Von Tomas Avenarius, Kairo

Es ist ein Angebot für frisch verheiratete Muslime mit einem Hang zur Militanz: eine Honeymoon-Tour von Raqqa in Syrien nach Anbar im Irak, in einem Reisebus, in dem auch verheiratete Männer von ihren Ehefrauen getrennt sitzen, in dem islamische Kampflieder gespielt werden und an dem die schwarze Kalifats-Flagge die Karosserie schmückt.

Nein, es ist keine Satire, es ist der Islamische Staat (IS). Die Busse, die seit Wochen in den von der Islamisten-Miliz kontrollierten Gebieten unterwegs sind, befördern vor allem ausländische Dschihadisten. Die meisten wollen offenbar mehr sehen vom Kalifatstaat als nur die Ruinen, in denen sie sich während der Kämpfe gegen die irakische Armee, die syrischen Streitkräfte oder irgendwelche eigentlich mit ihnen verbündeten Islamisten in Syrien verschanzt halten.

Einer der ersten, der das Angebot nutzte, war laut Nachrichtensender al-Arabiya der Tschetschene Abu Abdul Rahman al-Schischani: Der 26-jährige Kaukasier wollte seiner frisch angetrauten syrischen Ehefrau als Hochzeitsreise die Sehenswürdigkeiten des Kalifats zeigen. Ein Aktivist aus Raqqa sagte der Nachrichtenagentur Agence France Presse: "Diese Militanten sind eben Romantiker."

Die Islamisten sorgen für öffentliche Sicherheit

Der IS, die derzeit möglicherweise gefährlichste und schlagkräftigste Islamistenorganisation des Nahen Ostens, hat sein Kalifat aber nicht wegen der Befindlichkeiten einiger Islam-Nostalgiker ausgerufen. Keinen Monat nach der Inthronisierung von IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi als "Führer der Gläubigen" beginnen die irakischen Militanten, staatliche Strukturen zu schaffen in dem riesigen Gebiet, das von Aleppo und Raqqa in Syrien bis in die westirakische Provinz Anbar und hoch in den Norden mit der Großstadt Mossul reicht.

Der Betrieb der Reisebusse ist dabei nur ein skurriles Detail. Die Islamisten garantieren im Kalifatsgebiet inzwischen für die öffentliche Sicherheit, stellen ein Minimum an Sozialleistungen zur Verfügung. Sie erheben aber auch steuerähnliche Abgaben.

Für alle "Kalifats-Bürger" gilt ihr pseudo- islamisches Scharia-Regime: Exekutionen durch Steinigung nach Schnellurteilen von Scharia-Gerichten, Amputationen, Auspeitschen und andere Körperstrafen gehören dazu wie die Ermordung von Anhängern der Bagdader Regierung. Hinzu kommen der Schleierzwang für alle Frauen, das Rauch- und Trinkverbot. Vor allem aber steht IS für die systematische Vertreibung von Christen, Schiiten und Turkmenen.

Islamismus: Lastwagenweise verkauft der Islamische Staat Öl aus eroberten Feldern in Syrien. Selbst erbitterte Gegner sollen zu den Kunden zählen.

Lastwagenweise verkauft der Islamische Staat Öl aus eroberten Feldern in Syrien. Selbst erbitterte Gegner sollen zu den Kunden zählen.

(Foto: Marwan Ibrahim/AFP)

Das Leben folgt den Vorstellungen der Dschiadisten

Ein inkognito arbeitender Journalist berichtete nun über den IS-Alltag in der syrischen Stadt Raqqa. Bewohner anderer umkämpfter Städte des Bürgerkriegslandes seien in die Islamistenhochburg geflohen, weil die Sicherheit dort weit größer sei als in den anderen von Rebellen kontrollierten Städten Syriens: "Der Krieg geht weiter und wir müssen unser Leben leben", zitiert das US-Blatt einen syrischen Unternehmer, der seine kleine Textilfabrik von Aleppo nach Raqqa verlegt hat. Dort gibt es Märkte, Bäckereien und Geschäfte.

Das öffentliche Leben muss aber den Islam-Vorstellungen der Dschihadisten folgen, berichtete ein Lehrer. Kirchen seien zerstört , die Löwenfiguren in einem öffentlichen Park als heidnische Bildwerk zerschlagen worden. Zu den Gebetszeiten schlössen alle Läden und Einrichtungen.

Das Staatswesen erinnert an das der Taliban in Afghanistan

"Ich erkenne in Raqqa, dass der Islamische Staat eine klare Vorstellung davon hat, wie er ein reales Staatswesen bauen kann", sagte der Lehrer der New York Times. Es gebe eine "Islamische Behörde" mit Scharia-Gericht und Polizei, eine Steuerstelle, die von Ladenbesitzern knapp 17 Euro monatlich erhebt.

So entsteht dort ein Staat, ähnlich dem der Taliban im Afghanistan der späten Neunzigerjahre: Streng islamisch, mit primitiven staatlichen Leistungen, aber hoher öffentlicher Sicherheit. Dies führte in Afghanistan anfangs zu einer relativ hohen Akzeptanz des Regimes der Steinzeit-Islamisten.

Befehl zur Genitalverstümmelung?

Zuzutrauen ist ihnen alles, aber es ergibt wenig Sinn: Nach Angaben der Vereinten Nationen hat die militante Islamistenorganisation "Islamischer Staat" (IS) angeordnet, alle Frauen im Alter zwischen elf und 46 Jahren in ihrem Herrschaftsbereich beschneiden zu lassen. Dies behauptete laut der Nachrichtenagentur AFP die stellvertretende UN-Gesandte im Irak, Jacqueline Badcock. Sie sagte, die brutale Anordnung bedrohe bis zu vier Millionen irakischer Frauen. Sie werde begründet mit der Fatwa eines Islamgelehrten. Badcock nannte in einer Videokonferenz im irakisch-kurdischen Erbil keine Details dieses angeblichen religiösen Gutachtens. Es wurde offenbar über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreitet. Die Echtheit und die Urheber ließen sich unabhängig zunächst nicht feststellen.

Dem Islamischen Staat nahestehende Aktivisten bestritten laut der englischsprachigen Internetseite von Al-Jazeera den Erlass. Mit einer erzwungenen Massenverstümmelung von Frauen und Mädchen würden sich die radikalen Islamisten weite Teile der extrem konservativen sunnitischen Bevölkerung in ihrem gerade erst gegründeten Kalifat zum Feind machen. Die Frauenbeschneidung, eine Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsorgane, ist in Teilen der arabischen Welt und in Afrika bis heute verbreitet. Dies gilt besonders für Ägypten und den kurdischen Teil des Nordirak. In anderen arabischen Ländern ist diese vor-islamische, pharaonisch-afrikanische Tradition seltener. Eine Minderheit islamischer Gelehrter behauptet, es sei eine bindende islamische Vorschrift. Der Islamische Staat hatte in einer Blitzoffensive weite Teile des Nordwest-Irak überrannt und ein "Kalifat" ausgerufen. Als erstes vertrieben die Kämpfer dort lebende Christen. Tomas Avenarius

Anders als die Taliban kann der IS sein krudes Gemeinwesen leicht finanzieren: Bei der Eroberung Mossuls und weiter Teile des Nordwest-Irak soll den Islamisten angeblich fast eine halbe Milliarde Euro an staatlichen Geldern aus Bagdad in die Hände gefallen sein. Auch wenn Experten das bezweifeln, kommt auch aus anderen Quellen genug Geld in die IS-Kasse.

Islamisten verkaufen Öl an die syrische Regierung, gegen die sie kämpft

Mindestens vier kleine Ölfelder befinden sich im Irak in den Händen der Islamisten. Das im Irak geförderte Rohöl wird laut Nachrichtenagentur Reuters in primitiven mobilen Raffinerien in Syrien aufbereitet, dann in beiden Ländern verkauft: Die Militanten haben im Kalifatgebiet das Monopol auf Benzin. Sie verkaufen den Sprit über dem im Irak subventionierten Preis, in Mossul kostet der Liter Sprit nun gut einen Euro.

Auch in Syrien kontrolliert IS rund um Deir ez-Zor Ölfelder: Schon vor Monaten war berichtet worden, dass die Islamisten den Rohstoff sogar an die syrische Regierung verkauft, gegen die sie kämpft. Jetzt geht das Öl als Benzin wohl vor allem in den Irak: "Lastwagen mit irakischen Nummern kamen in den vergangenen Tagen und holten Öl für den Westirak", meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die über die Vorgänge in den Rebellengebieten informiert ist.

Auch Schmuggler sind Teil des Öl-Geschäfts

Das Geschäft mit dem IS lohnt: Auf dem Weltmarkt kostet ein Fass Rohöl 100 Dollar, IS verkauft es angeblich für 20 bis 40 Dollar. "Die Laster gehören irakischen Geschäfsleuten, die jetzt in Syrien Öl von IS kaufen", so die Beobachtungsstelle.

Reuters berichtet, dass auch türkische Schmuggler sich am Geschäft beteiligten. Ölschmuggel über die irakisch-türkische Grenze war schon während des internationalen Sanktionsregimes gegen die Saddam-Diktatur ein Millionengeschäft. Angeblich geht die irakische Armee inzwischen mit der Luftwaffe gegen das grenzüberschreitende Ölgeschäft vor.

Aber auch sonst wird mit dem Kalifat groß verdient: Die irakischen Kurden etwa zählen zu den erbitterten IS-Gegnern. Dennoch sollen die Gotteskrieger bis vor kurzem beim nun angeblich unterbundenen Schmuggelgeschäft mit IS-Öl ins Kurdengebiet umgerechnet knapp eine Million Euro verdient haben - täglich.

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