Süddeutsche Zeitung

Islamismus:Wo das Ungeheuer verwundbar ist

Asiem El Difraoui beschreibt den weltweiten Dschihadismus als Hydra, die man nur schwer besiegen kann. Er liefert viele eindrucksvolle Szenen zum Beweis, eine umfassende Geschichte des Dschihad gelingt ihm trotzdem nicht.

Von Simon Wolfgang Fuchs

Wie soll man vom Dschihadismus reden? Der Politologe Asiem El Difraoui schreibt griffig von der Hydra, also von einem nahezu unbezwingbaren Fabelwesen, dessen giftiger ideologischer Atem die ganze Welt durchdringt. Nach jedem vermeintlichen Sieg gegen dschihadistische Gruppen von Mali über Somalia bis zum Irak wuchsen der Hydra in den vergangenen drei Jahrzehnten stets weitere Köpfe. Trotz dieser Warnung will El Difraoui mit seiner Metapher gerade keinen übermächtigen Gegner konstruieren; die Anschaulichkeit soll vielmehr die vage Bedrohung greifbar machen, die Angst vor ihr nehmen und dabei helfen, Entstehungsursachen zu klären.

Militärische Lösungen kann es dabei klar nicht geben. El Difraoui schüttelt den Kopf über die klammheimliche Freude in deutschen Sicherheitsbehörden, dass hiesige Gefährder nach Syrien ausreisten, um sich dort als Problem durch eigene Anschläge oder Drohnenangriffe durch die Amerikaner "von selbst zu erledigen". Er warnt auch eindrücklich davor, der autoritären Versuchung zu verfallen und mit den Erschießungskommandos und Foltergefängnissen (arabischer) Diktatoren gemeinsame Sache zu machen oder diese als notwendiges Übel im Kampf gegen den Dschihadismus zu billigen.

Von Paris bis Algerien

Die Hydra ist an ganz anderer Stelle verletzlich. Sie verabscheut nichts mehr als Rechtsstaatlichkeit, politische Teilhabe und das konsequente Vorgehen gegen Marginalisierung und Ausgrenzung. Sie gedeiht dann prächtig, wenn Hassprediger und professionell aufbereitete Propaganda auf Jugendliche ohne Perspektive stoßen. Diese These untermauert der Autor durch viele eindrucksvollen Momentaufnahmen. Seine Wahlheimat Frankreich, die bereits früh vom Terror erschüttert wurde, liefert überzeugende Milieustudien einzelner Dschihadistengenerationen. Als einziges Einwandererkind in einer französischen Gymnasialklasse wehrte sich Khaled Kelkal zum Beispiel gegen den Zwang zur "totalen Integration". Er rutschte ab, schloss sich kriminellen Banden an und fand zu einem exklusivistischen Islamverständnis im Gefängnis. In den frühen 1990er-Jahren war er an Ermordungen und Bombenanschlägen beteiligt, bevor er selbst 1995 von der Polizei erschossen wurde.

Der Autor führt seine Leser auch mitten hinein in die Parteizentrale der algerischen Islamischen Heilsfront im Dezember 1991. Dort läuteten am Wahlabend unablässig die Telefone, eigene Wahlbeobachter übermittelten die Ergebnisse der Parlamentswahlen. Ein haushoher Sieg schien den Islamisten nicht mehr zu nehmen zu sein - bis das Militär putschte, die Islamisten festnehmen ließ und diese sich einmal mehr im Gefängnis radikalisierten. Großen Raum nimmt der Irak ein: El Difraoui besuchte 2003 eine regelrechte Dschihadistenkolonie im Norden des Landes, kurz vor deren Zerstörung durch die einmarschierenden Amerikaner. Die dort lebenden Männer tauchten unter und machten später unter anderem als Mitglieder des "Islamischen Staats" von sich reden. Über dessen Ende und alles Grauen, das damit einherging, reflektiert El Difraoui im Jahr 2019 bei einem Besuch von Mosul, wo der IS 2014 sein Kalifat ausgerufen hatte.

Die Ideengeschichte ist nicht El Difraouis Stärke

Eine Vielzahl solcher persönlicher Begegnungen und Unterredungen mit (ehemaligen) Dschihadisten und einer ganzen Reihe an Deradikalisierungsexpertinnen und -experten macht das Buch lesenswert und rüttelt auf. Allerdings erweist sich El Difraoui nicht immer als kundiger Führer, wenn es um die Einordnung der Misere in den größeren Kontext islamischer Ideengeschichte geht. Der Autor zielt mit seinem Werk nicht zuletzt darauf ab, eine "Geschichte des Dschihadismus" zu liefern. Dies misslingt, auch weil viele Standardwerke wie Shiraz Mahers 2016 erschienene Arbeit keinen Eingang finden.

Als Konsequenz finden wir zum Beispiel die Einordnung Muhammad ibn Abd al-Wahhabs, eines puristischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts und unfreiwilligen Namenspaten für den offiziellen Islam Saudi-Arabiens, als "Ahnherr" des Dschihad. Er habe dem Erbe "von mehr als einem Jahrtausend islamischer theologischer Reflexion, Koran-Interpretation, Philosophie und Rechtsprechung jede Bedeutung" abgesprochen. Diese Aussage ist gerade in Bezug auf islamisches Recht nicht haltbar, ordnete sich doch Ibn Abd al-Wahhabs Bewegung klar in bestehende rechtliche Traditionen ein. Dieser Schnitzer steht symptomatisch für einen Bogen, der sich im Buch bis ins 21. Jahrhundert spannt: El Difraoui präsentiert eine überholte und dürftig untermauerte "great man theory" der Denker des Dschihad. Einzelne, geniale Manipulatoren stehen im Mittelpunkt, welche der Hydra Futter gegeben hätten. Gleichzeitig vermengen sich in dieser Darstellung nicht näher erläuterte Ideenkonstrukte der Wahhabiten, Salafisten, Muslimbrüder, der Taliban, Deobandis und der "echten" Dschihadisten.

Manches wird undifferenziert vermischt

Im Kontext Afghanistans unterscheidet der Autor beispielweise nicht zwischen den divergierenden Interessen der lokalen afghanischen Warlords, die seit den 1980er-Jahren gegen die sowjetische Invasion zu den Waffen griffen, und den ausländischen arabischen Kämpfern, die dorthin strömten beziehungsweise es meist nur ins pakistanische Grenzgebiet schafften. Nur wenn man hier undifferenziert vermischt, kann man von "Afghanistan als Geburtsland des Dschihadismus" sprechen und auch den Sieg der Taliban im September 2021 der fabelhaften "Hydra" zuschreiben.

El Difraoui scheint zudem den intellektuellen und religiösen Unterbau des Dschihadismus zu unterschätzen. Wiederholt betont er, dass die Dschihadisten nichts anzubieten hätten - und dass es "ein Leichtes" sei, "sie innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft als ghulat - ketzerische Übertreiber - zu entlarven". Hier verkennt El Difraoui größere und strukturelle Veränderungen in Bezug auf religiöse islamische Argumentation im 20. Jahrhundert. Es ist nicht damit getan, den Radikalen nachzuweisen, dass sie bestimmte Koranverse selektiv zitieren. So einfach lässt sich der giftige Atem der Hydra nicht unschädlich machen. In Summe ist das Buch als umfassende Einführung in das Phänomen nur bedingt empfehlenswert, glänzt aber immer dann, wenn der Autor kundig Radikalisierungsverläufe entwirrt und substanzielle Kritik an bisherigen politischen Maßnahmen zum Kampf gegen den Dschihadismus übt.

Simon Wolfgang Fuchs vertritt die Professur für Kultur und Gesellschaft des Islam in Geschichte und Gegenwart an der Goethe-Universität Frankfurt.

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