Wenn der heute 31-jährige Ugur S. im Sommer 2014 mit Salafisten in seiner Heimat Mönchengladbach telefonierte, waren oft Staatsschützer vom Bundeskriminalamt (BKA) in der Leitung. Mal ging es irgendwie um Waffen, dann um Erlebnisse "da unten". Wo "unten" genau war, sagte er nicht, aber seine Gesprächspartner verstanden ihn vermutlich auch so. Einmal fragte er einen anderen Islamisten, ob dieser sich noch an die "rote Erde" in Raqqa erinnern könne. Das ist die Hauptstadt des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Osten Syriens.
War Ugur S. beim IS gelandet?
Ende September 2014 kam der türkischstämmige Islamist, der zum Umfeld des früheren salafistischen Vereins "Einladung zum Paradies" gehörte und auch mit Sven Lau bekannt war, an den Niederrhein zurück. Er stand fortan unter Beobachtung der Verfassungsschützer. Und auch die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft interessierte sich für ihn.
Im Juni 2015 kam er in Untersuchungshaft, im März 2016 begann der Prozess gegen ihn. Der vielfach vorbestrafte Mann, der sich selbst als "Dschihadist" bezeichnete, wurde unter anderem wegen Terrorismusverdachts angeklagt. Der Vorwurf lautete auf "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" nach Paragraf 89a des Strafgesetzbuches. Zwei Monate dauerte die Verhandlung. Dann kamen die Richter der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf zu dem Schluss, es könne "nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit" festgestellt werden, dass sich S. in Syrien habe ausbilden lassen oder dass er an Kampfhandlungen teilgenommen habe. Möglicherweise habe er sich mit dem vermeintlichen Syrienaufenthalt und dem Bekenntnis, er sei ein Gotteskämpfer, nur vor seinen Kumpanen dicke tun wollen. In diesem Punkt der Anklage sei er "aus tatsächlichen Gründen" freizusprechen.
Bundesbehörden bekamen 12 500 Datensätze des IS zur Verfügung gestellt
Der Fall des Ugur S. aus der Salafisten-Szene stand beispielhaft für die Schwierigkeiten, die Strafverfolger lange hatten, Angeklagten nachzuweisen, dass diese sich dem IS angeschlossen haben. Wer nicht bei Facebook oder sonstwo sein Dasein im Krieg der Terroristen dokumentierte, hatte Chancen, straflos davonzukommen.
Kaum war Ugur S. von diesem Tatvorwurf freigesprochen, meldeten Staatsschützer des Bundeskriminalamts einen bemerkenswerten Fund: ein Papier, das vom IS selbst stammt. Es soll nach Einschätzung nordrhein-westfälischer Behörden belegen, wie Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR ergaben, dass Ugur S. doch bei der Terrororganisation gewesen sei. Zwar sei der Vorname auf diesem Papier etwas falsch geschrieben - Ukur statt Ugur -, auch im Nachnamen gebe es Abweichungen. Aber so etwas sei dem IS auch in anderen Fällen passiert. Das von den Terroristen notierte Geburtsdatum sei ebenso Ugur S. zuzuordnen wie der Tag der Einreise am 22. Juli 2014. Er sei hinreichend sicher identifiziert. Der Freispruch in diesem Punkt ist nach Ansicht der Staatsanwaltschaft falsch.
Über 12500 Datensätze waren am 17. März dem Bundeskriminalamt von europäischen Sicherheitsbehörden überlassen worden. Darunter auch der Personalbogen von S., dessen Prozess am 1. März begonnen hatte. Sein Bogen konnte ihm erst nach dem Urteil zugeordnet werden. Der Fall von Ugur S.
war der 130. deutsche Fall. Bei dem Papier handelt es sich um einen der berühmten Einreisebögen des IS. Eine selbst ernannte "General-Grenz-Verwaltung" des IS registriert darin Namen, Geburtsdaten und andere Details der Freiwilligen, die in das Gebiet des Kalifats einreisen. Die Bögen sind eine Art Mitgliederverzeichnis des IS und spielen mittlerweile auch vor Gericht eine Rolle.
Die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft hat jetzt erneut ein Verfahren gegen Ugur S. nach Paragraf 89a eingeleitet. Der Einreisebogen sei in diesem Fall "ein wichtiges Beweisstück", sagt Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück. Der Fall ist allerdings juristisch kompliziert, weil S. in der Terror-Geschichte freigesprochen worden ist. Das könnte Strafklageverbrauch sein. Dieser juristische Begriff steht auch für das Verbot, jemanden mehrmals anzuklagen wegen einer Tat, die denselben Lebenssachverhalt betrifft, wie es im Strafrechtsjargon heißt. Die Bundesanwaltschaft soll von den Düsseldorfer Strafverfolgern eingeschaltet werden. Möglicherweise wird Karlsruhe nun ein Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gegen S. einleiten.
Sein Anwalt Daniel Hagmann sagt dagegen: "Der Freispruch gilt."
In einem anderen Punkt ist Ugur S. in dem Prozess aber zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Wegen diverser Körperverletzungsdelikte verhängte das Gericht zwei Jahre und neun Monate Haft. Ugur S. hatte Frauen, mit denen er nach islamischem Ritus verheiratet war, sowie den elfjährigen Sohn einer der Frauen schwer misshandelt. Eine Schwangere hatte er gewürgt, sie in den Bauch getreten, ihr mit einem Kampfmesser in die Hand geschnitten und gedroht, er werde ihr das ungeborene Kind aus dem Leib schneiden, wenn sie ihn verlasse oder jemandem von den Misshandlungen berichten werde.
In einem anderen Fall hatte er einer Frau ins Gesicht getreten. Als sie sich aus Angst in die Hose machte, lachte er und tat so, als filme er die Szene. Einen elfjährigen Jungen verprügelte er mit einem gedrehten und straff gespannten Palästinensertuch, das er wie eine Peitsche einsetzte. Er weckte das Kind mit Hieben und trat ihm einmal nachts ins Gesicht. In Syrien müssten die Kinder noch viel schlimmere Dinge aushalten, soll er gesagt haben. Durch Prügel würden Jungen zu guten Kämpfern.